SZ-Serie: Inklusion, Folge 6:Große Buchstaben allein reichen nicht

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Wenn Menschen mit Lernschwierigkeiten Texte verstehen sollen, sollten sie am besten in der sogenannten Leichten Sprache verfasst sein. Um schwierige Zusammenhänge zu erklären und Amtsdeutsch zu übersetzen, gibt es Experten wie die Münchnerin Verena Reinhard

Von Erich C. Setzwein, Fürstenfeldbruck

Kopftuch, Niqab, Burka - die teilweise oder volle Verschleierung ausschließlich weiblicher Gesichter regt zu einer lebhaften Debatte an. Alle, die darüber mitdiskutieren, scheinen verstanden zu haben, was Bundesinnenminister Thomas de Maizière gemeint hat, als er unlängst sagte: "Gesicht zeigen ist für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft konstitutiv." Haben das wirklich alle verstanden?

Politiker sowieso, aber auch viele andere, die sich öffentlich äußern, benutzen in ihrer Sprache gerne Fremdwörter. Teils, weil diese Fremdwörter zu ihrer Alltagssprache gehören, teils, weil sie damit eine gewisse Bedeutungsschwere erzeugen wollen. Konstitutiv also ist das Gesicht zeigen für das Zusammenleben. De Maizière hätte auch sagen können: "grundlegend" oder "sehr wichtig". Hat er aber nicht. Und so dürften sicher heute noch mindestens 14,5 Prozent der 16- bis 64-Jährigen in Deutschland darüber rätseln, was der Innenminister mit diesem Satz wohl gemeint hat. Denn dieser Anteil der Bevölkerung, so steht es in der sogenannten Alfa-Studie, kann zwar einzelne Wörter und sogar einzelne Sätze lesen, aber den Inhalt von Texten nicht verstehen. Schon gar nicht, wenn die Sätze Fremdwörter enthalten.

Diese 14,5 Prozent entsprechen etwa 7,5 Millionen Menschen in Deutschland, die als Analphabeten gelten. Dazu kommen noch mindestens 300 000 Menschen, die aus völlig unterschiedlichen Gründen Lernschwierigkeiten haben. Für sie wäre es besser, wenn sie Sätze oder Texte des Ministers in Leichter Sprache bekämen. Dann hätte er nämlich vielleicht nur "wichtig" gesagt.

Weil vieles von dem, was schriftlich verbreitet wird, eben für viele Menschen unverständlich ist, gibt es Menschen wie Verena Reinhard. Sie übersetzt Texte, von denen man annehmen müsste, dass sie verstanden werden, in Texte, die wirklich alle verstehen können. Denn Reinhard löst komplizierte Sätze auf, ersetzt Fremdworte und lässt ihre Übersetzung schließlich von Menschen mit Lernschwierigkeiten überprüfen.

"Wir ackern den Text durch", sagt die Germanistin und Medienwissenschaftlerin, die mit ihrem Büro "Einfach verstehen - Medienwerkstatt für Leichte Sprache" in München dem Netzwerk für Leichte Sprache angehört. Erst wenn ihre beiden Mitarbeiterinnen jedes Wort, jeden Text verstanden haben und den Inhalt auch wiedergeben können, dann hat Verena Reinhard ihre Arbeit gut gemacht. Wenn nicht, muss sie nachbessern.

Wer in Leichter Sprache etwas erklären will, der muss mehr tun, als nur andere Wörter zu benutzen. "Es gibt wichtige und schwierige Begriffe, die nicht übersetzt werden können", sagt Verena Reinhard. Wenn solche Begriffe auftauchen - und das tun sie in den meisten Publikationen -, dann muss sie sie erklären oder einfach umschreiben.

Veranstaltungen, an der Beehinderte teilnehmen konnten, werden in Leichte Sprache übersetzt und mit einfachen Grafiken illustriert. (Foto: Matthias Ferdinand Döring)

Wie etwa den Begriff "panaschieren". Der kommt in Bayern alle sechs Jahre vor, wenn die Kommunalpolitiker gewählt werden. Zur Wahl 2014 hat Verena Reinhard im Auftrag des bayerischen Behindertenbeauftragten die Wahlmöglichkeiten in Leichte Sprache übersetzt. So wurde aus dem Begriff des Panaschierens eine ganze DIN-A-4-Seite, in der ausschließlich in Hauptsätzen und mit Hilfe von einfachen Bildern diese durchaus schwierige Möglichkeit zu wählen erklärt wird:

"Sie können mehrere Bewerber von verschiedenen Listen wählen:

Sie können einem Bewerber eine Stimme geben: 1

Sie können einem Bewerber zwei Stimmen geben: 2

Sie können einem Bewerber drei Stimmen geben: 3

Sie schreiben die Zahl neben den Namen.

Bitte achten Sie darauf:

Sie dürfen für einen Bewerber nicht mehr als drei Stimmen geben!

Sie dürfen nicht mehr Stimmen geben als oben auf dem Stimm-Zettel stehen.

Dazu müssen sie alle Zahlen zusammen zählen.

Wenn sie zu viele Stimmen abgegeben haben:

Dann ist ihr Stimm-Zettel ungültig!"

Doch wie geht die Übersetzerin an "schwierige" Texte heran? Verena Reinhard sagt, sie habe sich schon als Schülerin und Studentin lieber kürzer und verständlich ausgedrückt und sei dafür während des Studiums auch gerügt worden. Sie hat ganz offensichtlich Freude daran, Schwieriges leicht zu machen. Und das seit mehr als zehn Jahren.

Verena Reinhard hat Germanistik, Philosophie, Kunst- und Medienwissenschaft in Konstanz und Tokyo mit den Schwerpunkten Linguistik und Essayistik studiert. 2010 hat sie ihre "Medienwerkfür Leichte Sprache" gegründet. (Foto: Matthias Ferdinand Döring)

Nach dem Studium arbeitete sie zunächst in der AG Behinderung und Medien und verpasste dort Filmen Untertitel für Gehörlose. Diesen Verein hatte die bayerische Staatsregierung 1983 initiiert, um Behinderte mit den Neuen Medien vertraut zu machen. Gleichzeitig will die heute als ABM firmierende Arbeitsgemeinschaft mit eigenen Fernsehproduktionen eine Lobby für Behinderte sein und für Inklusion werben. Bei ABM war Reinhard 2008 Mitbegründerin und Koordinatorin von "Klartext" und befasste sich dabei bereits mit Leichter Sprache. Zwei Jahre danach gründete sie ihr eigenes Büro für Leichte Sprache. Reinhard war 2013 Gründungsmitglied des Vereins Netzwerk Leichte Sprache, das 2006 als Netzwerk gegründet wurde. Im Februar 2016 war sie Mitbegründerin der bayerischen Sektion des Netzwerks Leichte Sprache.

In ihrer Arbeit wird sie von einem freien Mitarbeiter unterstützt. Zwei freie Mitarbeiterinnen mit Lernschwierigkeiten prüfen die von ihr vorbereiteten Texte. Die beiden sind Mitglieder der Münchner Gruppe von "Mensch zuerst", die zum Netzwerk "People first" gehört. Es ist der Verband deutscher Selbsthilfegruppen für Menschen mit Lernschwierigkeiten, die selbst nicht als geistig behindert bezeichnet werden wollen. Die People-first-Initiative entstand bereits 1974 in den USA.

Als Herausforderung empfindet es Verena Reinhard, für die Lernschwachen Texte zu übersetzen. "Ich versuche mich in die Menschen mit Lernschwierigkeiten hineinzuversetzen." Dafür ist eine Portion Einfühlungsvermögen wichtig, vor allem in die Sprache, aber auch die Denkweise der Behinderten. Was verstehen sie schon, was nicht mehr, welche Hilfe benötigen sie, um etwa an Basisinformationen zu kommen? Solche und ähnliche Fragen stellt sich die Übersetzerin, wenn sie den Auftrag für eine staatlichen Broschüre, einen kommunalen Leitfaden oder eine behördliche Internetseite in leichter Sprache bekommen hat - oder erfolgreich an einer öffentlichen Ausschreibung teilgenommen hat.

Etwa 50 Kunden pro Jahr bestellen bei ihr Übersetzungen oder buchen bei ihr Schulungen und Vorträge zur Leichten Sprache. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, zum Beispiel, hat dieses Jahr dem Thema Religionsfreiheit gewidmet. Verena Reinhard hat die Broschüre mit dem Titel "Freier Glaube. Freies Denken. Gleiches Recht" in Leichter Sprache bearbeitet (gibt es als kostenlosen Download auf www.glaube-denken-recht.de).

Bei allem Einfühlungsvermögen muss Verena Reinhard stets auch Regeln folgen. Eine der wichtigsten für die Übersetzung lautet: "Kurze Sätze, nur Hauptsätze, keine Nebensätze, keine Verschachtelungen." Jeder Satz, das hat das Netzwerk Leichte Sprache so festgelegt, darf nur eine Information enthalten. Reinhard weiß, dass mehr Infos in kurzer Abfolge Menschen mit Lernschwierigkeiten überfordern können.

Genauso wichtig ist auch die grafische Darstellung. Jeder Satz braucht eine eigene Zeile, die Schriftart muss groß und gut lesbar sein, es müssen Absätze und Zwischenüberschriften gemacht werden. Alles dient nur einem Zweck: aus einem "normalen" Text einen einfach verständlichen zu machen. Da ist die Übersetzerin kompromisslos, sie legt sehr viel Wert auf die Arbeit mit ihren Prüferinnen.

Zugeständnisse macht sie nur ungern, wenn jemand gerne einen Text nur in Einfacher Sprache übersetzt hätte. Denn dafür gibt es weniger deutliche Regeln, und die Gefahr, dass auch diese Texte unverstanden bleiben.

© SZ vom 02.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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