SZ-Serie: Einblick in den Alltag der Psychiatrie, Teil 2:Vom Leben aus der Bahn geworfen

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Auf der Krisen-Station der Psychiatrischen Klinik in Fürstenfeldbruck werden Menschen behandelt, die an akuten Symptomen leiden und dringend Hilfe benötigen. Auslöser sind oft Probleme bei der Arbeit oder eine Trennung

Von Florian J. Haamann

Stellt man sich die Psychiatrische Klinik wie ein Krankenhaus vor, nur eben nicht für gebrochene Beine, sondern für zerbrochene Seelen, dann ist die "Krise" so etwas wie die Notaufnahme. Hier kommen die Menschen mit akuten Problemen hin - meist freiwillig, manchmal auch unfreiwillig. Dann nämlich, wenn sie fremd- oder selbstgefährdend sind. Der einzige Unterschied zur somatischen Notaufnahme ist, dass die Patienten meist nicht nur wenige Stunden bleiben, sondern eher Tage, manchmal auch Wochen.

Im Büro der Station sitzt Oberärztin Stephanie Püschner und schaut einen Stapel Patientenakten durch. Sie bereitet sich auf die Visite vor. Die findet wie auf allen anderen Stationen auch, nicht auf den Patientenzimmern statt, sondern eben im Ärztebüro. Etwa 90 Prozent der Patienten hier kämen freiwillig, der Rest über die Polizei oder mit einem richterlichen Beschluss. "Aber auch diese Patienten entscheiden sich dann oft dafür, freiwillig zu bleiben. Weil sie merken, dass es ihnen hier gut tut, und sie froh sind, dass ihnen endlich geholfen wird". An der Wand hinter Püschners Schreibtisch hängt eine Tafel mit Therapieplänen, Informationen und kleinen bunten Schildern mit den fünf Grundregeln: Wertschätzung, Miteinander, Professionalität, Klarheit, Offenheit. Es sind Werte, die nicht nur propagiert werden, sondern in jedem Patientenkontakt zu erleben sind, egal ob bei den Ärzten, den Pflegern oder den Servicekräften.

Das Spektrum der Erkrankungen, mit denen die Menschen auf die Krise kommen, ist breit: Depressionen, Anpassungsstörungen, Angststörungen, Posttraumatische Belastungen. All das oft begleitet von Suizidgedanken. "Meist werden die Symptome durch ein bestimmtes Ereignis ausgelöst. Die Klassiker sind Probleme in engen Beziehungen, Trennungen und Probleme im Beruf", sagt Püschner. Auch sexueller Missbrauch sei ein großes Thema. Auf keiner Station im Haus ist der Altersdurchschnitt so niedrig. "Krisen treten oft im jungen Alter auf, zwischen 18 und 30 Jahren. Auslöser bei den jungen Menschen sind oft Zukunftsängste nach der Schule oder Probleme bei der Ablösung vom Elternhaus".

Örtlicher und funktionaler Mittelpunkt der Station ist der "Stützpunkt". Der Bereich besteht aus einer hellen Holztheke im vorderen Bereich Richtung Station, hinter der durchgehend eine Pflegekraft sitzt, an die sich die Patienten jederzeit mit ihren Anliegen wenden können. Dahinter gibt es einen abgeschlossenen Bereich für die Mitarbeiter, mit mehreren Computern und einem kleinen medizinischen Arbeitsplatz inklusive Medikamentenschrank.

An einem Schreibtisch gegenüber des medizinischen Bereichs steht ein Monitor, auf dem die Live-Bilder der Überwachungskameras aus dem beschützten Bereich zu sehen sind, sechs verschiedene Einstellungen gibt es. Dort werden die Patienten untergebracht, die akut selbst- oder fremdgefährdend sind. Ist eines der Zimmer belegt, sitzt ständig ein Mitarbeiter vor dem Monitor, der die Situation beobachtet.

Die drei Zimmer im beschützten Bereich sind die einzigen auf der Station, die hinter einer verschlossen Tür liegen. Alle anderen Patienten können sich frei bewegen, die Station und auch das Gebäude jederzeit in Absprache mit dem Personal verlassen. Das gehört zum Konzept der Klinik. Die drei Räume unterscheiden sich deutlich von den restlichen Patientenzimmern. Sie sind reizarm eingerichtet und sollen den Patienten eine ruhige Atmosphäre vermitteln. Jedes Zimmer hat ein eigenes Bad, es gibt einen Gemeinschaftsaufenthalts- und Raucherraum mit Fernseher.

Kommt ein Patient auf der Station an, geht es für Püschner und ihre Kollegen erst einmal darum zu entscheiden, ob ein stationärer Aufenthalt nötig ist oder ob der Patient besser ambulant oder von einem Psychiater oder einem Psychotherapeuten behandelt werden kann. Wird ein Patient aufgenommen, ist das Behandlungsziel, ihn zu stabilisieren, die Krankheit zu diagnostizieren, dem Betroffenen zu erklären, wie sie sich äußert und wie er damit umgeht und ihm aufzuzeigen, welche Weiterbehandlungsmethoden es gibt. "Wir wollen dem Patienten zeigen, welche Lösungsmöglichkeiten es gibt. Aber wir entscheiden nicht für ihn. Es wäre anmaßend zu sagen, wir wissen genau, was das Richtige ist. Das hat auch etwas mit Wertschätzung zu tun", sagt Amelie Backfisch, eine der Psychologinnen der Station. Auch gehe es nicht darum, den Erkrankten fertig zu therapieren. Das sei in der kurzen Zeit auch überhaupt nicht zu schaffen.

Im Bedarfsfall unterstützen eine Sozialarbeiterin oder eine Psychologin den Erkrankten bei Problemen mit den Behörden, der Suche nach ambulanten Angeboten und einem Psychiater. Niemand soll die Klinik verlassen, ohne genau zu wissen, wie es für ihn weitergeht.

"Die meisten Leute geraten nur einmal in ihrem Leben in eine psychische Krise", erzählt Püschner. Gerade bei Menschen, die zum ersten Mal in die Psychiatrie kommen, gehe es auch darum, Ängste und Vorurteile abzubauen. "Die haben vielleicht mal einen Psychiatriefilm gesehen, der Klassiker ist natürlich: "Einer flog über das Kuckucksnest", und haben Angst, dass sie genauso werden."

Wer die Brucker Psychiatrie von Innen erlebt, der bekommt schnell mit, dass die Realität wenig mit dem düsteren Bild von engen, verschlossenen Räumen, düsteren Gängen und Zwangsmedikamentierung zu tun hat. Vielmehr erinnern die Stationen schon fast an ein Hotel. Alles ist bunt, offen, gemütlich. Die Gänge sind in kräftigen Farben gestrichen, viele große Fenster sorgen für natürliches Licht. An den Wänden hängen Kunstwerke, die sogar berührt werden dürfen, auch die Türen zu den Ärztezimmern stehen offen. Es gibt sogar für jede Station einen kleinen Park.

Der Tag beginnt für die Patienten um halb neun mit einer Morgenrunde, einem lockeren Gespräch über alles, was gerade anliegt, mit einem der Mitarbeiter, im gemütlichen Aufenthaltsbereich gegenüber des Stützpunkts. Die meisten Patienten stehen alleine auf, die anderen werden rechtzeitig geweckt. Denn auch wenn sie viele Freiheiten haben, gibt es eine klare Tagesstruktur, an die sich alle halten müssen. Am Vormittag finden die Visiten statt, parallel beginnt das Therapieangebot. Zum Mittagessen kommen dann wieder alle zusammen, jede Station hat dafür einen eigenen kleinen Bereich. Dort essen Patienten und Pflegepersonal gemeinsam. "Es gibt aber auch Leerläufe, die die Patienten individuell gestalten können und sollen. Da können sie Besuch empfangen oder raus gehen. Wichtig ist uns, dass niemand den ganzen Tag nur auf seinem Zimmer hockt", sagt Viviane Lita, eine der Ärztinnen. Eine klare Alltagsstruktur zu erlernen, gehört zu Genesungsprozess und soll helfen, dass die Patienten nach der Entlassung nicht gleich wieder in alte Muster zurückfallen.

Ein Thema, das die Mitarbeiter der Station seit 2015 intensiv beschäftigt, ist die Situation der Flüchtlinge. Denn viele von ihnen sind traumatisiert und werden in der psychiatrischen Klinik behandelt. Aktuell befinden sich immer mehrere Flüchtlinge gleichzeitig auf der Station. Für die Mitarbeiter eine ganz neue Herausforderung. Denn die Dinge, die die Flüchtlinge erlebt haben, unterscheiden sich meist stark von den Sorgen der anderen Patienten. Erschwert wird die Arbeit zudem durch mehrere Faktoren. Die Sprachbarriere etwa. Zwar gibt es auf der Station einige fremdsprachige Mitarbeiter, etwa einen griechischen und einen rumänischen Arzt und eine Ärztin aus dem Sudan. Dazu sprechen einige Mitarbeiter neben Englisch auch Französisch. Das hilft manchmal, aber eben nicht immer. Für diese Fälle gibt es einen telefonischen Dolmetscherdienst, über den die Mitarbeiter innerhalb weniger Minuten einen passenden Übersetzer bekommen. Der wird dann auf einen Lautsprecher gelegt, um so das Gespräch zu begleiten. Ein weiteres Problem ist der meist unsichere Status der Flüchtlinge. Die Angst vor der Abschiebung und der Zukunft macht es den Psychologen oft unmöglich, zu den tieferliegenden Problemen überhaupt nur vorzudringen.

Auch die Wohnsituation der Flüchtlinge verstärkt den Druck. Denn die Bedingungen, die in den Unterkünften herrschen, sind aus psychologischer Sicht ein Albtraum. "Schwere Verhältnisse" ist wohl die diplomatischste Bezeichnung, anderen Mitarbeiter sprechen von "Camps" und "zusammengepfercht". Dazu kommt, dass die Flüchtlinge in den Unterkünften keine geregelte Alltagsstruktur haben und nicht arbeiten dürfen - wichtige Voraussetzungen für die Behandlung psychischer Erkrankungen.

"Was wir für diese Patienten aber leisten können, sind die Mindeststandards", sagt Oberärztin Püschner. Dazu gehört, erst einmal die Erkrankung zu diagnostizieren und den Betroffenen zu erklären, dass sie eine Krankheit haben, woher sie kommt, was sie bedeutet und wie sie mit den Symptomen umgehen können. Zusätzlich kommen auch Medikamente zur Symptomlinderung zum Einsatz "Das ist schon mal ein wichtiger Schritt." Oft helfen auch schon der Abstand zur Wohnsituation und eine gewisse Strukturierung des Alltags, um die Probleme zumindest etwas zu lindern.

© SZ vom 09.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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