Siegertext Erwachsene:Mein Freund Mahdi

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Lissi Pawelka trägt ihren Text über einen Flüchtling vor. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Der prämierte Text im Wortlaut

Von Lissi Pawelka

Seit Wochen liegen auf einer Wiese, ein Stück weit weg von dem Weg, der in den Wald führt, ein Paar große, dreckige Gummistiefel. Normalerweise kommt hier kaum jemand vorbei. Tobbi, mein Foxterrier, hatte sie beim Spaziergang gleich entdeckt und sie heftig verbellt. Ich hatte mich zwar ein wenig gewundert, aber den Vorfall vergessen, bis ich eine Nachricht auf Whatsapp in englischer Sprache erhielt: "Hi Tom, bin in Frankfurt bei meinem Bruder. Unsere Wette steht: ich bin bereit, und glaube mir, ich werde dich besiegen! Habe jeden Tag auf der Wiese hinter dem Altersheim geübt. Aber eines Tages tauchten plötzlich Leute auf, und ich rannte davon. Leider musste ich die Stiefel zurücklassen. Ich wollte keine peinlichen Fragen riskieren, das hätte mir sowieso keiner geglaubt..."

Ich wunderte mich sehr. Mein Freund Mahdi aus dem Irak war einfach abgehauen. Kein Wort davon hatte er mir gesagt vorher. Sicher hatte er Angst gehabt, dass ich es ihm ausreden würde, womit er recht gehabt hätte. Denn er durfte Bayern so lange nicht verlassen, bis sein Asylantrag entschieden war. Ich war ziemlich beunruhigt. Welche Konsequenzen würde das für ihn haben? Würde er in Frankfurt bleiben können? Und dann musste ich sehr lachen: trotz aller Probleme hatte mein Freund doch tatsächlich mit dem Stiefel-Weitwerfen angefangen! Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir uns zum ersten Mal getroffen hatten. Er stand mit einer großen rot-blau-karierten Tasche neben meinem Auto am S-Bahn-Parkplatz in Puchheim und fragte mich in gutem Englisch nach der Flüchtlingsunterkunft. Auf der Fahrt dorthin erzählte er mir dann, dass er 23 Jahre alt und Dolmetscher für Englisch sei und ganz allein aus dem Irak geflohen war. Seine Eltern waren als kritische Journalisten bedroht worden und deshalb mit seinen drei jüngeren Geschwistern in die Türkei geflohen. Sein älterer Bruder hatte es vor einigen Jahren in einer abenteuerlichen Flucht nach Frankfurt geschafft, wo er inzwischen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte.

In den folgenden Monaten hatte ich Mahdi mehrmals getroffen, hatte ihm bei all der Bürokratie geholfen, als ich plötzlich von meiner Firma für vier Wochen zu unserer Partnerfirma nach Helsinki geschickt wurde, um eine engere Zusammenarbeit vorzubereiten. Mahdi war sehr schockiert, dass ich so lange weg sein würde, aber ich versicherte ihm, dass wir durch Whatsapp immer in Kontakt bleiben würden. Und so war es. Fast täglich tauschten wir uns aus. Ganz aufgeregt schrieb er mir einmal, nachdem er - zusammen mit anderen Flüchtlingen - eine Einladung in den Zirkus Krone erhalten hatte. Noch Tage danach schwärmte er davon. Im Gegenzug hatte ich ihm berichtet, was so alles in Finnland los war. So konnte ich bei den sagenhaften Meisterschaften im Gummistiefelwerfen zusehen. Diese Sportart fand ich total witzig, und ich schickte Mahdi ein Foto davon. Er war so begeistert davon, dass er mir vorschlug, wir sollten beide üben und sobald ich wieder zurück wäre, einen Zweier-Wettkampf veranstalten. Kurz darauf gingen Selfies mit unseren jeweiligen Gummistiefeln hin und her. Ich hatte noch ein Paar im Keller gefunden, Mahdi bekam die seinen von einer alten Dame geschenkt, bei der er einmal pro Woche Deutsch lernen durfte.

Und die ganze Zeit kein Wort über seine Fluchtabsichten. Er hatte mir zwar einmal gesagt, dass er versuchen wollte, sich zu seinem Bruder nach Frankfurt durchzuschlagen, aber ich hatte ihm geraten nichts zu überstürzen und auf die Bewilligung seines Asylantrages zu warten. Als ich dann zurückkam nach Puchheim, erfuhr ich, dass er verschwunden sei, und niemand wüsste wohin. Heute hat er mich angerufen. Mahdi erzählte mir, er hätte Panik bekommen, weil plötzlich Gerüchte auftauchten, dass immer mehr Asylanträge von Irakern abgelehnt würden. Mit einem Lastwagen sei er nach Frankfurt gekommen. Die letzten Sätze sagte er auf Deutsch: "Tom, das Stiefel-Weitwerfen hat mich gerettet. Ich danke dir so sehr. Beim Werfen vergesse ich alle Probleme. Komm Tom, mein Bruder, lass dich von mir besiegen! Ich warte auf dich!"

© SZ vom 08.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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