Zwei Monate lag Ben Lesser im Koma. Er hatte das Vernichtungslager Auschwitz überlebt und den Todesmarsch nach Buchenwald. Als einer von 18 Menschen stieg er in Dachau aus Viehwaggons, gefüllt mit 3000 Toten. Drei Tage später befreiten amerikanische Truppen die Insassen des Konzentrationslagers. In der Nacht starb sein Cousin vor Erschöpfung in seinen Armen, dann fiel Lesser in Ohnmacht. Ein polnischer Jesuit legte sich den 17-Jährigen, der noch knapp 33 Kilogramm wog, über die Schulter und trug Lesser in die Krankenstation.
Als er die Augen wieder aufschlug, lag der jüdische Junge aus Polen in einem Bett in Sankt Ottilien, dem ersten jüdischen Krankenhaus in der US-Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg. "Dieser Ort hat einen besonderen Platz in meinem Herzen, denn ich starb in Dachau und wurde in Sankt Ottilien wiedergeboren", sagt er. Wochenlang wurde er auf der Krankenstation behandelt und versorgt. Ein Teil des Klosters diente der Wehrmacht seit Kriegsbeginn als Reservelazarett. 1941 beschlagnahmte die Gestapo den ganzen Komplex. Die Armee ließ viele Gebäude zu Krankenstationen umbauen, neue Operationssäle einrichten und schaffte Material und moderne Ausrüstung wie Röntgengeräte an.
Als die ersten jüdischen Überlebenden eines irrtümlichen Luftangriffs von US-Piloten auf einen Häftlingszug in Schwabhausen Ende April 1945 eintrafen, war das Lazarett mit mehr als tausend verwundeten deutschen Soldaten überfüllt. Der Kommandant schickte sie weg, aber der Arzt Zalman Grinberg kehrte mit amerikanischen Soldaten zurück. Deren Kommandeur präsentierte ein Maschinengewehr, woraufhin sich der deutsche Offizier bequemte, etwa 400 schwer verletzten und ausgemergelten Juden wenigstens die unbeheizte, freie Turnhalle zu überlassen.
Grinberg, ein Überlebender des KZ-Außenlagers Kaufering I, organisierte am 27. Mai ein Befreiungskonzert. Mitglieder des Ghetto-Orchesters von Kaunas spielten Bizet und Grieg. Der Arzt hielt eine starke Rede. Er sprach von der "triumphierenden Bilanz an Grausamkeit und Mord, die die Nation von Hegel und Kant, Schiller und Goethe, Beethoven und Schopenhauer" geschafft habe. Die meisten Zuhörer hätten mit Bahren aus der Turnhalle auf den Platz im Freien getragen werden müssen.
"Ich musste weinen, als ich das sah", sagt Robert Hilliard, 93 Jahre alt, der als junger US-Soldat im Auftrag der Armeezeitung gekommen war, weil er eine Story witterte. Die Militärregierung habe Sankt Ottilien mit Stacheldraht umzäunt. Es fehlte an Nahrung, Kleidung und Medikamenten. Hilliard und seine Kameraden stahlen aus amerikanischen Depots. Er marschierte in Offiziersuniform zu Dorfbürgermeistern und befahl, Kartoffeln zu liefern. "Aber das war alles zu wenig." Hilliard und sein Kamerad Edward Herman verfassten einen Brief, den viele Soldaten nach Hause schickten. "Völkermord durch Vernachlässigung", lautete ihr Vorwurf gegen die Militärverwaltung. Präsident Truman schickte den Juristen Earl G. Herrison der die Vorwürfe untersuchte und bestätigte. Ende August 1945 reagierte Truman auf den Harrison-Report. "Das änderte von einem Tag auf den anderen alles", erzählt Hilliard.
Im September 1945 übergaben die Amerikaner das Krankenhaus zur Selbstverwaltung an die sogenannten Displaced Persons, wie überlebende ausländische Opfer der Deutschen genannt wurden. Zu diesem Zeitpunkt wurden etwa 700 jüdische Überlebende in Sankt Ottilien behandelt, die Verwundeten der Wehrmacht waren bis August verlegt worden. Die Leitung des Hospitals hatten Grinberg und zwei jüdische Kollegen schon übernommen. Einige deutsche Ärzte und viele Schwestern blieben, andere weigerten sich, Juden zu versorgen und gingen. Manche jüdische Patienten wollten sich nicht von Deutschen behandeln lassen.
Die meisten litten an der "Hungerkrankheit", an verkümmerten Schleimhäuten in Magen und Darm, Muskelabbau, gestörtem Stoffwechsel und vegetativen Störungen wie Zittern oder Apathie, an Tuberkulose oder psychosomatischen Störungen, sie alle waren traumatisiert vom Terror. Viele Frauen wurden bei Zwangssterilisierungen verletzt, bei anderen war die Regelblutung aufgrund von Hunger und Angst ausgeblieben, bei manchen Eierstöcke oder Gebärmutter verkümmert. Das führte zu einer hohen Anzahl von Früh- und Fehlgeburten, Fehlbildungen und Todesfällen unter den Neugeborenen, berichtet die Historikerin Jael Geis auf dem Symposium zur Geschichte des jüdischen Krankenhauses am Montag in Sankt Ottilien. "Es ist die Kehrseite des Babybooms, der in den jüdischen DP-Lagern einsetzte", sagt sie.
Eine eigene jüdische Polizei bewachte nun das Hospital, eine Apotheke, ein Kindergarten und eine Schule, in der Hebräisch unterrichtet wird, wurden eingerichtet. Eines Tages sah Lesser Jugendliche draußen marschieren und hebräische Lieder singen. Es waren Waisenkinder, die eine zionistische Jugendorganisation nach Sankt Ottilien gebracht hatte, um sie auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Lesser, der inzwischen in der Klosterbäckerei arbeitet, schloss sich ihnen an.
Kurz bevor er abreiste, erkannte ihn seine Schwester wieder, die hochschwanger in Sankt Ottilien angekommen war. "Trotz Hitler gab es ein neues Mitglied in unserer Familie", sagt Lesser, der fünf Geschwister und seine Eltern durch die Shoa verloren hatte. Gemeinsam mit der neuen Familie der Schwester fand er in München eine Wohnung. Ein Jahr später wanderte Lesser in die USA aus. Im Mai 1948 wurden die letzten rund 200 Patienten nach Bad Wörishofen verlegt und das Kloster wieder den Benediktinern übergeben.