Neue Sichtweise:Die Rehabilitation

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Viele Jahre hatte Helmut Zierer nur ein sehr unscharfes und eher negatives Bild von seinem im Ersten Weltkrieg gefallenen Großvater. Im Laufe einer akribischen Recherche für ein Buch hat sich das grundlegend geändert

Von Manfred Amann, Fürstenfeldbruck

Mehr als zwei Millionen deutsche Soldaten, fast zehn Millionen insgesamt, sind auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gestorben. Einer von ihnen war Johann Spies aus Eilsbrunn bei Regensburg, der Großvater von Helmut Zierer aus Fürstenfeldbruck. Darstellungen, dass viele junge Männer, auch sein Opa, angeblich mit "Hurra" in den Krieg gezogen seien, und Andeutungen im Familienkreis, der Vater seiner Mutter sei ein roher Mensch gewesen und habe die Familie "Für Volk und Vaterland" im Stich gelassen, ließen dem Enkel zeitlebens keine Ruhe. Im Geschichtsunterricht sei über die schreckliche Tragödie, die im November vor hundert Jahren letztlich im Chaos geendet habe, hinweggegangen worden. Die Namen der Gefallenen seien in Grabsteine und Denkmäler gemeißelt und gar als Helden verklärt worden, sagt Zierer. "Für mich stellte sich jedoch die Frage, wie es zu dieser Katastrophe kommen konnte." Der 76-jährige frühere Brucker SPD-Stadtrat hat nun ein 148 Seiten starkes Buch veröffentlicht - hundert Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs.

Zierer wiederholt darin nicht etwa die bekannten Fakten, sondern greift wesentliche politische Ereignisse heraus, die seiner Ansicht nach beweisen, dass Johann Spies, wie alle seine toten Kameraden, einst dem Machthunger, den Weltmachtvisionen von Kaiser Wilhelm II. und der Kriegstreiber geopfert wurde und nicht für "Volk und Vaterland" den Heldentod gestorben ist. Dieser Vorwurf an die damals Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft spiegelt sich auch im Titel des Buches "Ein ,Bauernopfer' für den Größenwahn des Kaisers" wider. Es ist eine "Anklage wegen grob fahrlässiger Tötung meines Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg". Und es ist eine Mahnung, so etwas nie wieder zuzulassen.

"Mich beunruhigt sehr, dass Mitglieder der neuen Rechten, die mittlerweile im Bundestag sitzen, sich manchmal so menschenverachtend äußern, als hätte es die schreckliche Vergangenheit mit den beiden Weltkriegen nicht gegeben", so der Autor. Helmut Zierer hat nun auch ein ganz anderes Bild von seinem Vorfahren, nämlich das eines fürsorglichen Familienmenschen. In einer "Hommage für meinen toten Großvater Johann Spies" im Vorwort beteuert er, in diesem nun nicht mehr den vermeintlichen Unmenschen zu sehen und sich aufgrund seiner gewonnenen Erkenntnisse mit ihm versöhnt zu haben.

Der Kleinbauer und Landsturmmann Johann Spies ist einer von mehr als 44 000 deutschen Gefallenen, derer auf dem Soldatenfriedhof in Langemark in Belgien gedacht wird. Von der Kriegsgräberfürsorge, die er seit Langem unterstützt, hatte Zierer davon erfahren und damit Gewissheit erlangt, dass sein Großvater nicht wie angenommen in Frankreich, sondern in Belgien gefallen ist. Bei einem Besuch streute er ihm etwas Heimaterde aufs Grab. Der Enkel wälzte Literatur, besuchte Ausstellungen und trug Mosaikstein um Mosaikstein zusammen, um im Kontext des Weltgeschehens den Vorwurf an die damals Verantwortlichen belegen soll.

Einer von zwei Millionen gefallenen deutschen Soldaten: Johann Spies. (Foto: Carmen Voxbrunner)

Der Autor beginnt drastisch mit der Anklage, beschreibt das "Tatmotiv", verurteilt den Krieg als Vorsatz, arbeitet sich durch die geschichtliche Entwicklung hin zum vierjährigen Massensterben, das auch den Vorfahren seiner Frau Hildegard heftig zugesetzt hatte. Dabei schlägt Helmut Zierer immer wieder eine Brücke nach Eilsbrunn, wo sein Großvater mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen gelebt hatte. Zum Nachdenken anregend sind Zierers Kommentierungen, die den Leser erahnen lassen, wie sehr ihn das kurze Leben seines Großvaters und das durch den Krieg ausgelöste Leid für die Vorfahren seiner Frau berühren. Besonders beschäftigt hat den Autor, ob sein im Frühjahr 1917 gefallener Großvater, den er von einem Foto her nur als strammen Soldaten mit Pickelhaube und Kriegsmontur kannte, tatsächlich ein gefühlsarmer, unsensibler Zeitgenosse gewesen ist. Über dessen Leben und seine Gedankenwelt habe er kaum etwas gewusst. "Es gab aber eine Kindheitserinnerung, die auf mich sehr betrüblich, ja entsetzlich gewirkt hat", schreibt Zierer. Bei einem Heimaturlaub, so sei erzählt worden, soll Spies auf die Nachricht von der Geburt seines fünften Kindes, das ein Mädchen war und später die Mutter des Autoren wurde, abweisend reagiert und kaum Notiz davon genommen haben. Bei den Recherchen war Zierer dann auf eine Feldpostkarte gestoßen. Danach sorgte sich Johann Spies sehr um seinen Vater. "Lasst ihn keine Not leiden, dass er sich erholen kann" schrieb er von der Front nach Hause. Als Soldat könne er auf Proviantpakete gut verzichten, ein Brief aus der Heimat würde ihm schon reichen.

"So etwas schreibt kein gefühlskalter Mensch", sagt Zierer. Daher sei er zu dem Schluss gekommen, dass etwaige unsensible Reaktionen oder Äußerungen seines Großvaters beim Fronturlaub in der Heimat nur dem unsäglichen und grausamen Krieg geschuldet gewesen sein können. Der Krieg habe diesen und viele andere Soldaten auch "zu einem seelischen Wrack" gemacht.

Helmut Zierer: Ein "Bauernopfer" für den Größenwahn" des Kaisers, Verlag Michael Laßleben, Kallmünz, ISBN 978-3-7847-1240-6; erhältlich unter anderem im Buchladen "Treffpunkt Wagner" am Geschwister-Scholl-Platz in Fürstenfeldbruck;

© SZ vom 02.03.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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