Nach einer durchzechten Nacht:Verhängnisvoller Schubs

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Ein 20 Jahre alter Kongolese sitzt wegen versuchten Totschlags vor der Jugendkammer des Landgerichts München. Er soll in einer Fürstenfeldbrucker Flüchtlingsunterkunft einen Eritreer eine Treppe hinunter gestoßen haben. Am ersten Prozesstag gesteht er die Tat teilweise

Von Ariane Lindenbach, München/Fürstenfeldbruck

Ein Streit unter Heranwachsenden aus dem Kongo und Eritrea in einer Flüchtlingsunterkunft in der Kreisstadt eskaliert im vorigen Juli. Es wird handgreiflich, am Ende stürzt ein Eritreer eine drei Meter hohe Treppe hinunter und bleibt bewusstlos liegen. Seit Dienstag sitzt nun ein 20-Jähriger wegen versuchten Totschlags vor der 1. Jugendkammer am Landgericht München II; er soll den Eritreer rücklings hinuntergestoßen haben. Am ersten Prozesstag berichtet der Kongolese von seinem bisherigen Leben und lässt durch seinen Rechtsanwalt ein Teilgeständnis ablegen. Allerdings enthält seine Aussage viele Widersprüche.

Der Verteidiger räumt für seinen Mandanten ein, dass es damals nach einer durchzechten Nacht Streit gab. Der Angeklagte hatte mit Landsleuten durchgefeiert und von 23 Uhr an fünf oder sechs Bier getrunken. Gegen sieben Uhr begann der Streit mit zwei Eritreern, da der Angeklagte bei seiner Putzarbeit laute Musik hörte. Eine Polizeistreife, verständigt von einem der Eritreer, kam vorbei, schlichtete und schickte alle auf ihre Zimmer. Als einer der Eritreer wenig später mit drei Landsleuten draußen vor der Tür eine rauchen wollte, traf er wieder auf den Angeklagten. Erneut kam es zum Streit, gegenseitigen Beleidigungen und Drohungen.

So weit räumt der Verteidiger den Anklagevorwurf ein. Allerdings mit der Einschränkung, dass der damals 19-Jährige weder gedroht habe, alle Christen auszulöschen, noch dass der Islam die erste Religion der Welt sei. "Er sei zwar Moslem, aber dass die Religion in seinem Leben nicht so eine große Rolle spielt", erklärt der Anwalt. Er bestreitet den Vorwurf, sein Mandant habe den Eritreer im weiteren Verlauf der Auseinandersetzung mit beiden Händen gestoßen. "Er sagt, dass er absichtlich niemanden heruntergeschubst hat. Er stand drei oder vier Personen gegenüber." Vielleicht habe er im Gerangel den anderen versehentlich gestoßen, das tue ihm leid.

Zu seinem bisherigen Leben befragt das Gericht den 20-Jährigen ausführlich. Die Vernehmung dauert den ganzen Vormittag, was aber auch an einer längeren Unterbrechung liegt. Und daran, dass der Angeklagte häufig widersprüchliche Antworten gibt, die von einer Dolmetscherin für Französisch übersetzt werden und die öfter von der Vorsitzenden Richterin Regina Holstein hinterfragt werden müssen.

Als Vollwaise - die Mutter starb wohl, als der Angeklagte zwei Jahre alt war, der Vater davor - lebt der Angeklagte bei Freunden seiner Eltern. Wegen eines Konflikts läuft er zehnjährig davon, schlägt sich zunächst weiter in seiner Provinz, später wegen Unruhen in der Hauptstadt Kinshasa als Straßenverkäufer und Friseur durch. Ein Mann, der ihn bei sich wohnen lässt und ihn unterstützt, bringt ihn auf die Idee, nach Europa zu fahren. Über die Türkei und Griechenland kommt der Angeklagte Ende 2015 nach Deutschland. Neun Monate später kommt es zu der Auseinandersetzung in der Flüchtlingsunterkunft.

Der 20-Jährige besuchte keine Schule, hat sich selbst Lesen und Schreiben beigebracht. Auch seinen Glauben habe er "auf der Straße gelernt", allerdings kenne er die Regeln nicht genau. Sein Herumdrucksen bei Fragen zum Alkoholkonsum lässt vermuten, dass der Angeklagte schon einmal vom Alkoholverbot für Moslems gehört hat. Zunächst eiert er vage herum, behauptet dann auf wiederholte Nachfrage, am Tattag das erste Mal in seinem Leben Alkohol getrunken zu haben. Die Sitzung muss wegen einer Terminüberschneidung des Anwalts unterbrochen werden.

Nach der Pause erklärt der Verteidiger, seinen Mandanten befragt zu haben: Der habe erstmals in Deutschland, allerdings vor dem Tattag Alkohol getrunken, vor allem Wein. Der Angeklagte ergänzt, er habe gedacht, er trinke Saft. Ähnlich vage antwortet er auf Fragen zu Drogen, Gewalt- oder sexuellen Erfahrungen und Gesetzesüberschreitungen. Der Prozess dauert an.

© SZ vom 14.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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