In früheren Zeiten waren Märchen nichts für schwache Nerven, schon gar nicht für zartbesaitete Kinderseele. Nein, sie dienten der Unterhaltung Erwachsener. Nachts, wenn die Kleinen im Bette waren, erzählte man sie sich Geschichten von Prinzessinnen und Riesen, verwunschenen Traummännern, Flüchen, Zaubersprüchen, sprechenden Tieren und - meist bösen - Hexen, oft waren sie gruselig, blutrünstig oder obszön. Über die Jahrhunderte wurden sie vor allem mündlich weitergetragen, bis die Brüder Grimm sie im 19. Jahrhundert entschärften und durch Illustrationen kindgerecht machten. Der Erfolg gab ihnen recht: 200 Jahre später assoziiert das kollektive Bewusstsein Grimms und alle anderen Märchen in erster Linie mit Kinderlektüre.
Insofern waren die Rollen im Sitzungssaal des Gröbenzeller Rathauses vertauscht. Denn wer da in der aktuellen Viertelstunde vortrat, sich dem Mikro entgegen reckte und den etwa 50 Erwachsenen etwas von einer Hexe erzählte - einer guten, wohlgemerkt! - das waren drei Mädchen: Victoria, Emma und Martha mögen etwa zehn Jahre alt sein, vielleicht ein wenig jünger. Das Mikrofon jedenfalls musste von einem hilfreichen Gemeinderat ein ordentliches Stück weiter unten justiert werden, damit die Drei überhaupt dranreichten.
Und so erzählten Victoria, Emma und Martha den beeindruckten Erwachsenen von dem ihnen unbekannten, sagenumwobenen Fabelwesen namens Hexe. "Wir waren noch nie in der Hexe, aber wir hören von ganz vielen Gröbenzellern, wie toll die Hexe ist." Man erzähle sich atemberaubende Geschichten von Freundschaften und Jugendstreichen, durchzechten Nächten, ersten Küssen, Zusammenhalt und Einsamkeit. Überhaupt sei die ehemalige Bahnhofswirtschaft, die vor einigen Wochen mit einer legendären Abschiedsparty ihre Pforten schloss (aktuell verhandelt die Gemeinde mit den Eigentümern über den Erwerb), im Ort eine Institution. "Es wäre toll, wenn wir und unsere Generation auch noch in die Hexe gehen könnten", schloss dass bezaubernde Trio seinen leidenschaftlichen Appell.