Mitten in Germering:Das Prinzip der Wundertüte

Lesezeit: 1 min

Man sollte sich öfter mal überraschen lassen - zum Beispiel von einem Buch oder auch von einem unbekannten Gegenüber

Von Christian Hufnagel

In der allegorischen Überhöhung gleicht das Leben einer Wundertüte. Es birgt manch billige Überraschung, doch trotz aller Enttäuschungen obsiegt die Neugierde auf die nächste Packung. Einen derart metaphorisch-philosophischen Ansatz hatten die Geschäftsleute freilich nicht im Sinn, als sie diese Tüte nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Wirtschaftswundermarkt warfen. Sie wollten schlicht Kinder dazu bringen, das Taschengeld bis zum letzten Pfennig auszugeben - für eine knallbunte Verpackung, deren Inhalt ein wenig Süßes, Lektüre und Spielzeug enthielt. In jedem Fall befeuerte jede Tüte den Wunsch nach einer weiteren, schließlich gibt es kaum Schöneres als überrascht zu werden - und wenn es eine saftige Enttäuschung wird.

Auf diesem Überraschungsei-Prinzip gründet nun eine "besondere und interessante literarische Aktion", mit der die Germeringer Stadtbibliothek Leser dazu verleiten will, "auch mal etwas ganz Neues und Unbekanntes auszuprobieren". Diese können im Advent ein blickdicht verpacktes und mit einer Schleife versehenes Buch ausleihen, das nicht mit seinem Cover lockt, sondern einzig seine Gattung preisgibt, damit ein Kleinkind zu Hause nicht Goethes "Faust" auspackt: "Ich bin ein Roman" oder "Ich bin ein Kinderbuch" steht zur Orientierung auf dem Papier. Immerhin 80 Exemplare hat die Bücherei für dieses Experiment aus dem Bestand zusammengestellt, vermutlich genügend Auswahl, um bei diesem "Blind Date mit einem Buch" einen Freudentreffer zu landen.

Will also die Germeringer Stadtbibliothek Buch und Mensch zu einem Paar auf Zeit verschmelzen, hat das Fürstenfeldbrucker Mehrgenerationenhaus doch ausschließlich Mann und Frau im Blick, welche sich gegenseitig ja bekanntermaßen tagtäglich als Wundertüte vorkommen. Im Januar lockt zum zweiten Mal die atemlos schnelle Kontaktveranstaltung "Speeddating 60+". Nun verrät die Ankündigung zwar nicht, wie viele Seniorenherzen bei der Premiere im September denn am Ende wirklich zusammengefunden haben, aber zumindest unter einem gruppendynamischen Aspekt muss es gefunkt haben. Die Verkuppler heben jedenfalls hervor, dass sich "sogar ein regelmäßiger Seniorenstammtisch entwickelt" habe. Und fühlen sich deshalb ermutigt, das Speeddating für die ältere Generation zu wiederholen. Allerdings herrscht wohl ein Frauenüberschuss. Die Organisatoren wünschen sich "noch fünf bis zehn Männer ab 60 Jahren, die Lust haben mitzumachen". Also: Die Aussicht auf ein Abenteuer sollte für Männer jenseits der 60 sicherlich noch in die Tüte kommen. Und vielleicht erlebt der ein oder andere mit seiner Gegenüber ja ein Wunder.

© SZ vom 19.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: