Mitten in Fürstenfeldbruck:Ein Witz auf 232 Seiten

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Eine ganz und gar zeitgemäße Betrachtung über das gute alte Telefonbuch

Von GREGOR SCHIEGL

Trotz Einflüssen der modernen Literatur, der Neuen Sachlichkeit und des Dadaismus gilt das Telefonbuch noch immer als künstlerisch wenig wertvoll. Zu viele Personen, zu wenig Handlung, so lautet der Hauptvorwurf der Literaturkritik. Trotz der narrativen Unentschlossenheit gibt es jedes Jahr ein Remake des Klassikers "Das Örtliche - Für Fürstenfeldbruck und Umgebung". Das kostenlose Werk der Autorenvereinigung DeTeMedien ist bei der Post und in den nächsten Tagen sogar im eigenen Briefkasten zu finden. Wie die meisten Klassiker wird es nur selten gelesen, aber gerne zur Zierde in die Wohnung gestellt. Jetzt also gibt es die neue Ausgabe, und so viel sei jetzt schon verraten: Es müllert und meiert auch im neuesten Band, dass es nur so rumpelt. Im Erzählstrang "Fürstenfeldbruck" treten außerdem fünf Pleils auf. Darunter auch ein mehrfach eingetragener Klaus: Wer Faxen machen will, dem steht hier sogar eine separate Nummer zur Verfügung. Dennoch ist die Dramaturgie gewohnt schwach; das Ende um Margarete Zwerenz aus Schöngeising bleibt, wie bereits 2015, offen.

Die wahre Enttäuschung ist allerdings der Umfang. Statt 286 Seiten hat die neue Ausgabe - die im Format zugegebenermaßen leicht zugelegt hat - nur mehr schlappe 232; selbst "Disney's Lustige Taschenbücher" haben mehr zu bieten. Seufz, ächz. kopfkratz, Entenhausen schlägt Oberschweinbach. Wie gibt es das? Galt die Gegend rund um Fürstenfeldbruck nicht mal als Wachstumsregion? Jedes Jahr müssten Tausende neuer Leute dazu kommen, Leute mit Telefonanschluss. Wo sind die alle hin? Warum liest man nichts mehr von denen? Was verschweigt man uns? War die Zensur am Werk, der Landrat oder gar der türkische Präsident Erdoğan?

Bevor man sich in Verschwörungstheorien hineinsteigert, sollte man sich lieber fragen: Ist das Druckwerk überhaupt noch zeitgemäß? Etwa die Hälfte der Kunden schmeißt das Telefonbuch sowieso gleich ins Altpapier. Die wichtigen Nummern hat man im Smartphone, zur Not schaut man im Internet nach. Dort ist zu lesen, dass Felix Graf von Luckner, Korvettenkapitän aus dem Ersten Weltkrieg und Verfasser dröhnender Seefahrerprosa, ein Telefonbuch mit bloßen Händen zerreißen konnte. Das schaffen wir inzwischen auch. Die Redewendung "dick wie ein Telefonbuch" ist nur mehr ein trauriger Witz. Ach ja, falls Sie jemand suchen, der Sie kitzelt, schlagen Sie nach in den Gelben Seiten, die ebenfalls in Kürze ausgeliefert werden: 179 Seiten Lebenshilfe und subtil in Szene gesetzte Kapitalismuskritik.

© SZ vom 17.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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