Mitten im Amtsgericht:Immer mit der Ruhe

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Normalerweise ist es ja der Richter, der beim Angeklagten nachbohrt. Diesmal aber hat ein anderes Bohren eine Verhandlung lahmgelegt

Von Ariane Lindenbach

Lärm ist eine subjektive Wahrnehmung, heißt es. Manches Geräusch, das der eine als wohltuend empfindet, stellt für den andern eine Quelle fortwährenden Ärgers da. Das ist beim grellen Kindergeschrei nicht anders als beim tiefen Röhren einer Harley. Motorengeräusche, genauer, Verkehrslärm, sind überhaupt ein gutes Beispiel für das subjektive Empfinden von Akustik: Vom Schalldruckpegel her ist etwa Großstadtverkehr kaum vom Klang einer Kirchenorgel zu unterscheiden - allein das Wissen um die Geräuschquelle und die jeweilige Einstellung dazu lassen diese als unerträglich oder unbeschreiblich schön erscheinen.

Dass dieser Zusammenhang zwischen Geräuschquelle und subjektivem Empfinden auch mit der inneren Einstellung zu tun haben muss, legt eine Beobachtung neulich im Amtsgericht nahe. Eine Verhandlung wegen Bedrohung befindet sich gerade mitten in der Vernehmung des ersten Zeugen, als plötzlich das alles durchdringende Gequietsche eines großkalibrigen Bohrers jedes Geräusch im Sitzungssaal verschluckt. Wer die Lokalität kennt, weiß, dass die Akustik in den Sitzungssälen mehr oder minder viel zu wünschen übrig lässt. Und dass in dem aus Alt- und Nachkriegsbau bestehenden Gebäudekomplex seit rund einem Jahr Umbauarbeiten laufen - es geht um Brandschutz, Barrierefreiheit und einen sicheren Eingangsbereich. Schlechte Verständlichkeit vor einer Geräuschkulisse von Bauarbeiten ist man also längst gewöhnt. Doch diesmal ist es so laut, dass der Richter die Vernehmung unterbrechen muss. Bis zur nächsten Bohrpause. So geht das während der Aussage des Zeugen noch mindestens zwei Mal. Im weiteren Verhandlungsverlauf stört das Bohren, das Hämmern und Klopfen immer wieder. Eine Zuhörerin hat sich schon weiter nach vorne gesetzt, beide Arme auf die Vorderlehne gestützt, die Hände als Schalltrichter an den Ohren. Der Richter aber lässt sich nicht beirren. Als das Bohren schließlich weitere Gespräche unmöglich macht, verlässt der Vorsitzende mit einer stummen Geste - "Moment, bitte" - den Saal. "Fünf Minuten noch, dann sind sie fertig", erklärt er alsbald in stoischer Gelassenheit. Dann verhandelt er in aller Ruhe zu Ende.

© SZ vom 17.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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