Lesung:Bildhafter Klang der Worte

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Mit einem Märchen im bayerischen Dialekt ist Margit Leukhart für die meisten Kinder verständlich. Lesestücke auf Friaulisch oder Somali werden da bei der ungewöhnlichen Märchenstunde schon mehr zur Herausforderung. (Foto: Günther Reger)

Eine vielsprachige Märchenstunde in der Fürstenfeldbrucker Stadtbibliothek verdeutlicht: Es muss nicht jedes Wort verstanden werden, um den Zauber von Illusion und Fantasie zu entfachen

Von Julia Huss, Fürstenfeldbruck

Aus der Kinderbuchabteilung der Bücherei in der Aumühle sind bereits aufgeregte Kinderstimmen zu hören, während es sich sowohl die Kleinen als auch die Großen auf flauschigen Kissen unter einem weißen Himmel gemütlich machen und sich schnell noch eines der leckeren Plätzchen stibitzen, die in der Mitte des Sitzkreises auf einem großen Teller bereit stehen. Die Weihnachtsdekoration und die Regale voller Kinderbücher, die ringsherum stehen, machen die gemütliche Atmosphäre perfekt. Nachdem alle Zuhörer einen Platz gefunden haben, fängt Margit Leukhart an, auf einer Feenharfe zu spielen, um das erste Märchen dieses Nachmittags hereinzulassen und um es dann schließlich mit offen Armen, aber vor allem mit offenen Ohren zu empfangen.

Nachdem das erste Märchen, welches auf Bayerisch vorgetragen wurde, langsam verklingt, macht sich die nächste Erzählerin bereit, die Kinder, aber auch die Erwachsenen, in ihren Bann zu ziehen und die Zuhörer langsam in eine Märchenwelt davonzutragen. Dafür benötigt Elena Barbiani nichts als ihre Stimme, ihre Gestik und ihre Mimik und schon hängen die Kinder an ihren Lippen und lauschen der italienischen Version des Gebrüder Grimm Klassikers "Blaubart". Nachdem die junge Frau auch noch ein Märchen auf Friaulisch, eine romanische Sprache, vorgetragen hat, würde man meinen, dass sich die Kleinen vielleicht langweilen könnten oder sogar ungeduldig werden, aber ganz im Gegenteil, nach einer kurzen Pause und dem einen oder anderen Plätzchen haben alle Kinder wieder Platz genommen und können es kaum erwarten, dem spanische Märchen von Carina Huamani und Carola Müller zu lauschen.

Während die Frauen die Kinder mit ihrer Muttersprache vorsichtig vertraut machen und sich die feurige Sprache im Raum ausbreitet, verwenden sie zusätzlich einige bunte selbstgemalte Bilder, um zu veranschaulichen, dass es sich in dem Märchen um einen Pinguin dreht. Als sie zum letzten Satz des Märchens kommen, wissen die Kinder instinktiv, dass das Märchen zu Ende ist und applaudieren begeistert. Der allgemeine Tenor nach den ersten Märchen ist eindeutig: die Kinder sind Feuer und Flamme. Und tatsächlich "wird man von den Worten in eine andere Welt weggetragen", wie Christine Dietzinger, Lese- und Literaturpädagogin und Mitglied des Vereins Turmgeflüster, es ausdrückt. Die gemeinnützige Organisation hat sich auf die Fahne geschrieben, die literarische und kulturelle Bildung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Durch das Vortragen von Märchen in verschiedenen Sprachen erweitern Kinder nicht nur ihren literarischen Horizont, sondern sie lernen ihr eigene Muttersprachen, aber auch unbekannte Fremdsprachen neu kennen. Als dann schließlich ein weiteres Märchen auf Deutsch folgt, wird sofort klar, in welcher Weise sich die einzelnen Sprachen unterscheiden. Die eigene Muttersprache vermittelt das angenehme Gefühl von Heimat und Geborgenheit. Märchen in einer Fremdsprache wie Italienisch und Spanisch zu hören, erzeugt wiederum eine unbekannte und mitreißende Atmosphäre. Genauso ist es auch der Fall bei Adnan Ahmed, der die Kinder schließlich ein letztes Mal mit einem Märchen auf Somali verzaubert. Nachdem er mit roten Wangen seine Geschichte beendet hat, ist es ganz still und die Kinder blicken ihn mit großen Augen an. Als sich dann einige Eltern aufrichten, um sich auf den Heimweg zu machen, wird auch den Kinder langsam wieder bewusst, dass sie sich nicht in einer fantastischen Märchenwelt befinden, sondern in der Kinderbuchabteilung der Stadtbibliothek. Auch die kleine Lina-Maria steht noch lange da und kann sich dem Zauber der Märchenwelt kaum entziehen.

Nach diesem Nachmittag wird deutlich, dass es überhaupt nicht darauf ankommt, jedes einzelne Wort eines Märchens oder einer Geschichte zu verstehen, denn der angenehme Klang der Stimme der Erzähler, ihre leidenschaftliche Gestik oder ihre weitaufgerissenen Augen erzählen mehr als tausend Worte.

© SZ vom 06.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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