Kooperation:Mobil bleiben

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Sehbehinderte helfen einander beim Treffen in Germering

Von Karl-Wilhelm Götte, Germering

Es wird gelacht und geratscht. Das monatliche Treffen der Selbsthilfegruppe der Blinden und Sehbehinderten ist alles andere als eine triste Veranstaltung. Zwölf Frauen und vier Männer sitzen in der Germeringer Insel, der sozialen Koordinierungsstelle im Zentrum für Jung und Alt (Zenja), an einem großen Tisch und stellen sich nach der Sommerpause einander vor. Christa Tretschock und Gertrud Roth, beide normal sehend, betreuen die Gruppe der Blinden und Sehbehinderten, seit sie vor 22 Jahren gegründet wurde. "Wir backen Kuchen und decken den Kaffeetisch", erzählt Tretschock und serviert gerade Kaffee.

Beide Frauen umsorgen die Besucher liebevoll, machen aber auch klare Preisansagen. So hat sich die Abholung mit dem Kleinbus verteuert. Acht Personen müssen sich jetzt die Transportkosten von 49 Euro teilen. Im Mittelpunkt steht an diesem Nachmittag aber auch technisches Rüstzeug für Blinde und Sehbehinderte. Hildegard Tonkel, die Leiterin der Selbsthilfegruppe, hat 15 sprechende Schlüsselanhänger, die die Uhrzeit ansagen, zu vergeben. Sie sind aus dem Nachlass von Elisabeth Chemnitz, der Co-Leiterin der Selbsthilfegruppe, die kürzlich verstorben ist. Ihre Tochter hat Tonkel auch noch drei sprechende Armbanduhren und mehrere Handlupen zur Verteilung übergeben.

Auch Rolf Zimmer arbeitet mit technischen Hilfsmitteln. Er sieht unter fünf Prozent. "Das ist nach dem Gesetz voll blind", sagt Zimmer. Der 59-jährige Germeringer schwört auf sein I-Phone, das vor ihm auf dem Tisch liegt. "Das liest mir meine E-Mails vor", erzählt er und zeigt, wie das geht. Zimmer hat ein sogenanntes Mobilitätstraining mit dem Blindenstock gemacht. "Ich traue mich raus", sagt er, "aber im bekannten Gelände fühle ich mich schon sicherer". Das sei in Germering der Fall, aber auch nach München in die Fußgängerzone fährt er und bewegt sich dort allein. Hildegard Tonkel hat ebenfalls nur noch eine Sehkraft von unter fünf Prozent, dafür ist sie aber immer zu hundert Prozent gut gelaunt. "Es gehört Überwindung dazu, zur Selbsthilfegruppe zu kommen", sagt sie. Deshalb tut sie alles dafür, dass die Gruppe sich wohlfühlt. Eine Frau ist an diesem Nachmittag neu erschienen; das freut Tonkel ganz besonders.

Hildegard Tonkel geht nur mit familiärer Unterstützung vor die Tür. Zusammen mit Rita Zauner, ihrer Stellvertreterin, hat sie beim Bayerischen Blindenbund in München acht Monate lang die Blindenschrift gelernt. Lediglich vier Teilnehmer hatten den Kurs begonnen, aber nur Tonkel und Zauner schlossen ihn auch ab. "Dafür gab es ein Diplom", sagt Tonkel etwas amüsiert. Jetzt kann sie in Blindenschrift schreiben und Bücher lesen. Die Bücher, die in Blindenschrift übersetzt sind, sind jedoch viel dicker als normale Bücher und müssen in Pakete verpackt werden. Tonkel bevorzugt weiterhin ihr Lesegerät, mit dem sie gut zurecht kommt und auch Zeitung lesen kann.

In der Zwischenzeit gibt es am großen Tisch einen verbalen Austausch über die trockene und aggressivere feuchte Makula, an der viele Besucher leiden. Die Gruppe tauscht sich über Augenkliniken und Operationserfahrungen aus. Die Makula ist die Stelle im Auge, mit der Menschen am schärfsten sehen. Degeneriert die Makula, kommt es zur fortschreitenden Erblindung. "Das Auge ist kaputt - Feierabend", wirft Manfred Weinzierl scheinbar resigniert ein. Aber der 66-jährige Germeringer, der auf beiden Augen nur noch auf eine Sehkraft von zwei Prozent kommt, versucht das Beste draus zu machen. "Zeitung kann ich noch lesen", sagt Weinzierl, "aber nach fünf Minuten fängt es an zu schwimmen". Probleme mit dem Sehen haben alle Besucher, aber Singen können sie alle. Georg Roth, der Ehemann von Gertraud Roth, ist mit seinem mobilen Klavier gekommen und stimmt "Wenn alle Brünnlein fließen" an. Danach folgen noch einige Lieder wie "Kein Schöner Land" oder "Ännchen von Tharau" - ein schöner WohlfühlaAbschluss des Nachmittags.

© SZ vom 04.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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