Kommentar:Lesen muss bezahlbar sein

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Warum die Abschaffung der Bibliotheksgebühr für Bedürftige ein richtiger Schritt ist

Von Julia Bergmann

Ohne eigene Bücher zu sein, ist der Abgrund der Armut, verweile nicht darin! So sollen die Worte eines weisen Mannes namens John Ruskin, eines unbestimmten Tages im 19. Jahrhunderts gelautet haben. Ungeklärt ist, ob die Armut ganz im prosaischen Sinn zu verstehen oder doch eher auf die Armut des Geistes bezogen war. Sei es wie es sei, vermutlich hätte sich der Urheber dieser Worte nicht träumen lassen, dass sie mehr als hundert Jahre später einmal die Situation beschreiben, die im Olchinger Stadtrat diskutiert wird.

Zwar sind es keine eigenen Bücher, die man den finanziell schwach gestellten Bürgern schenken möchte, aber mit der Abschaffung der Bibliotheksgebühr für Bedürftige soll die finanzielle Hürde aus dem Weg geschafft werden, die vom Lesen abhalten kann. Das ist eine herrliche Idee und absolut zu begrüßen. Ganz so einfach dürfte das Ziel, einkommensschwächere Menschen verstärkt zum Lesen anzuregen damit aber trotzdem nicht erreicht werden. Ein bloßes Angebot zu schaffen, reicht nicht aus. Es müssen auch dazu passende Strukturen geboten werden. Solche Strukturen gibt es bereits für Kinder, etwa mit der Veranstaltungsreihe "Olchinger Kids - Ohren gespitzt". Was spräche dagegen, auch Lesungen für Erwachsene auf die Beine zu stellen? Wer sich das Ziel setzt, das Leseverhalten von Erwachsenen auszubauen, damit diese ein besseres Vorbild für ihre Kinder abgeben, darf ruhig darüber nachdenken, ob es nicht auch Dinge gibt, die sich die Erwachsenen von den Kleinen abschauen können. Wie sonst kann jemand, der bisher nur wenig Spaß am Lesen gefunden und in kaum einem Buch geschmökert hat, den Nervenkitzel erleben, den die Abenteuer eines Tom Sawyers versprechen. Wie sonst soll er wissen, wie es ist, mit Atticus Finch gegen den glühenden Rassismus der Südstaaten in den 30er Jahre zu kämpfen und den frivolen Eskapaden der Madame Bovary beizuwohnen? Und es muss ja auch gar keine Bovary, kein Sawyer und kein Finch sein. Auch ein Kommissar Eberhofer kann zum Kämpfer für mehr geistigen Reichtum werden. Wichtig ist nur, um wieder auf Ruskin zurückzukommen, nicht in der (geistigen) Armut zu verweilen.

© SZ vom 06.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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