Kindesmissbrauch und Konfettiregen:Meisterhafte Kombination

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Und immer wieder regnet es Konfetti auf die kaum auseinanderzuhaltenden Spieler in "Das Fest". (Foto: Günther Reger)

Christopher Rüping hat Thomas Vinterbergs Film "Das Fest" fürs Theater adaptiert. Das ist ihm so gut gelungen, dass er in Fürstenfeldbruck damit einen Erfolg feiern kann

Von Valentina Finger, Fürstenfeldbruck

Die Richtung, die Regisseur Thomas Vinterberg 1998 mit "Das Fest" einschlug, ist Geschmackssache. Einige Jahre zuvor veröffentlichte der Däne das Manifest "Dogma 95", das gegen Wirklichkeitsentfremdung im Film gerichtet ist. "Das Fest" ist das, was dabei herauskommt, wenn man den eigenen Regeln entsprechend auf Spezialeffekte und künstliche Beleuchtung verzichtet, weder Zeit noch Ort der Realität verändert und ausschließlich mit Handkameras dreht. Die Kritik feierte das Werk. Beim Zuschauer dürften sich aufgrund der eigenwilligen Ästhetik gemischte Gefühle einstellen. Gemischt waren auch die Reaktionen, die Christopher Rüping auf seine Theateradaption des Films erhielt. Bei der Premiere 2014 am Schauspiel Stuttgart wurde die Inszenierung ausgebuht. Bei der finalen Aufführung des Stücks im Rahmen der Reihe Theater Fürstenfeld im Stadtsaal gab es nun tosenden Beifall.

Man muss sich auf Verständnislosigkeit gefasst machen, wenn man eine bereits in der Filmvorlage bizarr erzählte Geschichte über Kindesmissbrauch in der Familie mit Konfettiregen und Elementen des experimentellen Theaters kombiniert. Rüping ist diese Zusammenführung meisterhaft gelungen. Das Schicksal von Christian, der auf der Feier zum 60. Geburtstag seines Vaters mit der Wahrheit über dessen sexuelle Neigungen herausrückt, ist der Mittelpunkt eines kindlichen Anti-Märchens, in dessen Zuge die Bühne sozusagen vom Zirkuszelt zum Schlachtfeld mutiert. Christians Geständnis sprengt die Party. Um das wirre Hin und Her aus Verleugnung und Verzweiflung, das die Familie daraufhin auseinanderreißt, fassbar zu machen, nutzt Rüping nahezu jedes Mittel, das das Theater als Darstellungsmedium zu bieten hat.

Das sechsköpfige Ensemble wechselt die Stimmungen so rasant, als läge hier eine kollektive Borderline-Störung vor. Und auch im Einzelnen wirken die Figuren, vom debilen Großvater bis zur Mutter, die die meiste Zeit über passiv wie eine Puppe am Arm ihres Mannes hängt, kaum geistig zurechnungsfähig. Die Darsteller Maja Beckmann, Paul Grill, Pascal Houdus, Matti Krause, Svenja Liesau und Christian Schneeweiß scheinen aus dem Irrenhaus entlaufen und direkt in die Kindergeburtstagsparty im Kopf eines Wahnsinnigen gestolpert zu sein. Dort regnet es Konfetti, immer und immer wieder. Das Licht geht mal an, mal aus. Während des beklemmenden Dialogs zwischen Vater und Sohn ist es rötlich gedimmt wie im Freudenhaus. In einer Szene, in der Christian, anders als im Film, scheinbar nur mit sich selbst verhandelt, wie es nach seiner Offenbarung weitergehen soll, sind alle grellen Spots auf ihn gerichtet.

Es mag auch an dem permanenten Geräuschteppich liegen, weswegen die Zuschauer ebenso wenig zur Ruhe kommen wie das Geschehen auf der Bühne. Pianomusik und Popsongs, Tiergeräusche und Dialoge, die innerhalb eines Satzes den Sprecher wechseln oder von irgendwo aus dem Off kommen, sorgen für eine Dezentralisierung, wie sie auch der Film erreicht. Doch wo der Film leise ist, ist Rüpings Inszenierung meistens laut. An manchen Stellen, zum Beispiel, wenn in Rage die Requisiten umhergeschmissen werden, ist sie sogar so laut, dass es sich auf passende Weise unangenehm anfühlt. Durch die stete Überreizung der Wahrnehmung lässt die Darbietung weder Raum zum Weinen noch zum Lachen. In jener beklemmenden Schwebe, in der das Publikum indessen verweilen muss, erreicht die hervorragend auf die Bühne gebrachte Absurdität des Erzählten ihre größte Intensität.

Was bunt und verrückt begonnen hat, wird gegen Ende immer düsterer. Aus dem Fantasiespielplatz ist ein Friedhof geworden, auf dem die vorgetäuschte Familienidylle begraben liegt. So wie Christian zunächst gegen die jahrelang aufrechterhaltene Verdrängung anreden musste, wird die reichlich spät kommende Entschuldigung des Vaters schließlich in dumpfen Tönen erstickt.

Kostüme dienen in diesem Spektakel gleichzeitig zur Kennzeichnung und zum Transfer von Charakteren. Ihre Bühnenidentitäten erlangen die Schauspieler, sonst in graue Overalls gekleidet, erst durch das Anlegen übergroßer Pullover mit markierenden Buchstaben darauf. Diese werden wild untereinander getauscht. Aus dem missbrauchten Sohn wird der angeklagte Patriarch oder die tote Schwester, die aufgrund der Taten des Vaters Suizid begangen hat. Der Kostümwechsel steht sinnbildlich für das Gewinnen, Prägen und Verlieren des eigenen Selbsts durch Erlebtes. Bei Rüpings Christian geht der traumatische Prozess so weit, dass er am Ende gar nichts mehr trägt. Gar nichts außer Konfetti, das an seinem nackten Körper wie Narben haften bleibt.

© SZ vom 27.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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