Kindesmissbrauch:"Kinder fühlen sich dann hilflos und schuldig"

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Andrea Bergmayr berät junge Frauen und Mädchen, die Opfer von sexueller Gewalt wurden. (Foto: privat/oh)

Sozialpädagogin Andrea Bergmayr äußert sich zur Notwendigkeit, Mädchen und Buben gegen sexuellen Missbrauch zu wappnen, und zu den Strategien der Täter

Von Ariane Lindenbach, Fürstenfeldbruck

An zwei aufeinander folgenden Tagen sind kürzlich am Amtsgericht Fürstenfeldbruck zwei Männer wegen Kindesmissbrauch zu Bewährungsstrafen von einem und zwei Jahren verurteilt worden. Beide hatten vor vielen Jahren ihre Nichten, der eine zudem seine Tochter missbraucht. Wie Eltern ihr Kind gegen Missbrauch stärken und verhindern können, dass sie ähnliche Erfahrungen machen, und woran sie vielleicht erkennen können, ob ihr Kind selbst zum Opfer wurde, darüber sprach die SZ mit Andrea Bergmayr. Die Sozialpädagogin leitet die Beratungsstelle vom Münchner Verein "Imma" für Mädchen und junge Frauen, die Opfer sexueller Gewalt sind. Imma ist auch für den Landkreis zuständig, ebenso wie das Pendant für Buben und junge Männer "Kibs".

Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind missbraucht wurde?

Es gibt kein spezifische Auffälligkeit. Worauf man achten sollte: Wenn es eine plötzliche Verhaltensauffälligkeit gibt, zum Beispiel wenn das Kind vorher sehr ruhig war und jetzt lebhaft und aggressiv ist oder früher sehr lebhaft und jetzt in sich zurückgezogen. Auch wenn es Entwicklungsrückschritte gibt, sollten Eltern genauer hinsehen. Das kann beispielsweise sein, dass Kinder schon gelernt hatten, auf die Toilette zu gehen und dann wieder einnässen oder sie lutschen plötzlich wieder am Daumen, können nicht mehr bei Dunkelheit einschlafen, obwohl das längst kein Problem mehr war. Aufmerksam werden sollten Eltern auch, wenn plötzliche Ängste auftauchen, etwa vor Monstern im dunklen Keller oder Ähnliches. Wichtig ist in jedem Fall, dass so eine plötzliche Verhaltensänderung auch andere Ursachen haben kann und die Eltern versuchen sollten, durch Beobachten, Zuhören und Reden die Ursachen zu erkennen.

Wie kommen Eltern mit ihren Kindern ins Gespräch?

Eltern können zum Beispiel ihren Kindern erklären, dass es gute Geheimnisse gibt, aber auch solche, die man nicht für sich behält. Kinder öffnen sich leichter, wenn sie nicht das Gefühl haben, etwas falsch gemacht zu haben.

Ist es sinnvoll, Kinder auch ohne jeglichen Verdacht auf einen Missbrauch vorzubereiten, um sie dagegen zu wappnen ?

Prävention ist sehr sinnvoll. Ein Ziel wäre, dass Kinder sich selber, also auch ihre Gefühle, besser kennen lernen: Was mag ich, was nicht. Wenn Kinder ein starkes Selbstbewusstsein entwickeln, ist das gut. Es hilft auch, wenn Kinder ihre Körperteile benennen können und lernen zu sagen, hier ist eine Berührung okay und da nicht. Man sollte Kindern vermitteln, dass es Grenzen gibt, die alle respektieren müssen. Wenn es um Prävention geht, können Eltern und Fachkräfte sich mit Täterstrategien auseinandersetzen.

Was sind denn die Strategien der Täter?

Ich spreche bewusst von Männern, denn sie sind zu 85 Prozent die Täter. Meistens kommen sie aus dem sozialen Nahbereich, die meisten planen die Taten bewusst. Ihre Strategie ist es, Vertrauen zum Kind und zu dessen Bezugspersonen aufzubauen. Sie belegen die Kinder dann mit einer Art Geheimhaltungsdruck, zum Beispiel dass jemand sterben würde oder verhaftet werde, wenn das Kind sich jemandem anvertraut. Kinder fühlen sich dann hilflos und schuldig. Oder sie fühlen sich sogar schuldig am Missbrauch selbst, weil sie der Täter dafür verantwortlich macht. Auch das Vorspielen falscher sexueller Normen ist eine Strategie, zum Beispiel schauen manche Täter mit ihren potenziellen Opfern Kinderpornos, um ihnen vorzugaukeln, das wäre normal.

Was bewirkt ein solches Erlebnis bei den Kindern?

Die Kinder bekommen immer mehr Schuldgefühle, ziehen sich zurück. Oder sie verdrängen den Missbrauch und wollen ihn nicht wahrhaben. Manchmal wird Opfern nach Jahrzehnten durch einen bestimmten Auslöser - eine spezielle Situation, ein Wort - erst bewusst, dass sie als Kind missbraucht wurden.

Und deshalb kommt es oft erst so spät zu einer Anzeige?

Ja, es kommt bei uns in der Beratungsstelle öfter vor, dass sich Mädchen oder Frauen mit ganz anderen Themen an uns wenden, etwa weil sie Angst haben um eine Freundin oder mit Konzentrations- oder Schlafstörungen, und mit der Zeit wendet sich das Beratungsgespräch plötzlich zu den eigenen verdrängten Erinnerungen.

Bei den Opfern scheint manchmal Abhängigkeit zum Täter zu bestehen. Wieso ist es so schwer, sich daraus zu befreien?

Sie fühlen sich beachtet und schätzen die Zuwendung, nicht nur die körperliche, sondern oft auch die emotionale, mitunter auch die materielle: das Opfer bekommt Aufmerksamkeit, vielleicht auch Geschenke. Zusammen mit dem vorhin angesprochenen Geheimhaltungsdruck und den Schuldgefühlen sind sie wie gelähmt.

© SZ vom 08.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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