Kinder:Bevor ein Säugling austrocknet

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Das Jugendamt hat im vergangenen Jahr 180 Fälle der sogenannten Kindswohlgefährdung bearbeitet. Oft reicht es, wenn die Mitarbeiter das Elternhaus überprüfen. Aber 50 Minderjährige wurden in Obhut genommen

Von Sebastian Mayr, Fürstenfeldbruck

Kabel, die ohne Steckdosen aus der Wand hängen. Ein Gitterbett ohne Matratze. Schimmel an den Wänden. Medikamente, die offen herumliegen. Ingrid Hempel hat bei den Familien, die sie besucht hat, schon vieles gesehen. Hempel leitet den Bereich Familienhilfe und Pflegekinderdienst im Jugendamt des Landratsamts. Wenn jemand glaubt, dass das Wohlergehen von Kindern in Gefahr ist, kann er sich an Hempel und ihre Kollegen wenden. 180 Mal ist das im vergangenen Jahr geschehen.

Geht eine solche Gefahrenmeldung beim Jugendamt ein, statten zwei Mitarbeiter der Familie einen Besuch ab. In den meisten Fällen zeigen die Besuche, dass keine Gefahr für das Wohl der Kinder besteht. Aus den Gefährdungsmeldungen folgten aber auch 18 Anhörungen vor dem Familiengericht und 18 Sorgerechtsverfahren, die vor Gericht verhandelt wurden.

Zu Anhörungen kommt es, wenn die Gefährdung des Kindeswohls zwar noch nicht sicher festzustellen, aber konkret möglich ist. Dann wird mit den Eltern gemeinsam erörtert, wie diese Gefährdung verhindert werden kann.

Bei Sorgerechtsverfahren entscheidet das Gericht, wie bestehende Gefahren für die Kinder abgewendet werden können. Dabei kann auch in das Sorgerecht der Eltern eingegriffen werden, die laut Grundgesetz für das Wohlergehen ihrer Kinder verantwortlich sind.

Wenn eine akute Gefahr droht, reagieren die Mitarbeiter des Jugendamts sofort. Dann kann ein Kind zu seinem Schutz auf der Stelle mitgenommen werden. Umso jünger ein Kind ist, desto schneller reagieren die Jugendamtsmitarbeiter. "Je kleiner die Kinder, desto gefährdeter sind sie", erklärt Hempel. Ein Schulkind könne sich notfalls auch selbst etwas zu essen organisieren, ein Säugling dagegen trockne aus.

50 Mal kam es im vergangenen Jahr zur Inobhutnahme von Minderjährigen. Dazu gehören allerdings nicht nur Situationen, in denen Mitarbeiter des Jugendamts akuten Handlungsbedarf sahen. Auch Fälle, in denen sich Kinder und Jugendliche selbst an das Jugendamt wandten, um Obhut zu bekommen, zählen dazu.

Darüber, was in der Folge einer Inobhutnahme geschieht, gibt es keine Auswertung. Manchmal folgen Anhörungen oder Sorgerechtsverfahren, in anderen Fällen kehren die Kinder zurück in ihre Familien.

Viele Gefahrenmeldungen gehen anonym ein oder kommen aus Schule und Kindergarten. Andere Quellen sind Nachbarn, Ärzte, die Polizei, Freunde, Familienmitglieder oder Behörden. Bei den Hausbesuchen folgen Ingrid Hempel und ihre Kollegen einem festen Schema.

Sie achten auf die optische Erscheinung der Kinder, die Bindung an die Eltern und die Wohnsituation. Gibt es gefährliche Stellen? Ist die Küche benutzbar? Hat das Kind eine Schlafgelegenheit? Manchmal wird ein weiterer Besuch vereinbart, manchmal werden die Eltern in die Behörde geladen, manchmal kommen die Jugendamtsmitarbeiter noch einmal zu einem unangekündigten Besuch. Ein konkretes Beispiel für einen Hinweis oder einen Hausbesuch darf das Jugendamt nicht nennen, um die Persönlichkeitsrechte von Kindern und Eltern nicht zu verletzen.

Den Fall, den der Referatsleiter Dietmar König schildert, hat es so oder ähnlich bereits mehr als einmal gegeben: Zwei Mädchen, fünf und neun Jahre alt, sind oft und auch spät am Abend alleine im Freien. Die Kinder wirken ungepflegt, die Mutter der Kinder auch, der Vater ist selten zu Hause. Die Wohnung der Familie ist sehr schmutzig, die Wände sind teilweise verschimmelt und in der Küche stinkt es. Die jüngere Tochter scheint nicht in den Kindergarten zu gehen, die Ältere geht in die Grundschule. Ein Nachbar, der nicht will, dass die Familie seinen Namen erfährt, bittet das Jugendamt, nachzusehen und etwas gegen die Situation zu unternehmen. Eine Sachbearbeiterin entscheidet sich für einen unangekündigten Hausbesuch, bei dem sie die Situation überprüfen und gegebenenfalls Hilfe anbieten will.

Neben der Möglichkeit finanzieller Unterstützung gibt es auch ambulante sozialpädagogische Hilfe. Dabei wird über die Situation der Kinder, die Rollenzuschreibungen innerhalb der Familie und die Erziehungsstile der Eltern gesprochen.

© SZ vom 09.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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