Germering:Sensible Annäherung

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Von einem Sohn, der Mischa heißt, und dem Hund Rabbi, der ein ziemlich orthodoxer Hund ist, schreibt Lena Gorelik. Bei einer Veranstaltung der Volkshochschule Germering liest sie aus diesem Buch. (Foto: Günther Reger)

Lena Gorelik liest in Germering aus ihrem Buch "Lieber Mischa" und macht ihre Zuhörer mit jüdischem Leben in Deutschland vertraut. Am Ende kommen aus dem Publikum persönliche Fragen

Von Sonja Pawlowa, Germering

Zehn Jahre nach seinem Erscheinen liest Lena Gorelik aus ihrem Buch "Lieber Mischa". Fragen dürfen im Anschluss gestellt werden, so kündigt Uta Klose von der Volkshochschule Germering dem Publikum in der Stadtbibliothek an. Fragen hat sich aber auch Lena Gorelik gestellt. "Vieles würde ich heute nicht mehr so schreiben," sagt sie bevor sie mit der eigentlichen Lesung beginnt. Damit meint sie nicht nur ihre ganz normale Selbstkritik als Schriftstellerin, sondern vor allem den Humor, der 2021 angesichts der politischen Lage merklich dürftiger ausfallen würde.

Mit nur 23 Jahren landete Lena Gorelik mit "Meine weißen Nächte" einen Bestseller. Das ist bemerkenswert, weil Lena Gorelik bis zu ihrem elften Lebensjahr nicht ein Wort Deutsch sprach. Ultimative Meisterschaft in einer Fremdsprache zu erlangen, diese Sprache sogar zum Beruf zu machen und Literaturpreise zu gewinnen, das beeindruckt. "Als Autorin kann ich mich wehren," sagt Lena Gorelik und nimmt damit Bezug auf Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Russophobie. Seitdem hat Lena Gorelik eine ansehnliche Anzahl an Bücher, Essays, Reportagen und Texte veröffentlicht. Oft dreht es sich um Russland, noch öfter um ihre jüdischen Wurzeln. So auch in "Lieber Mischa" aus dem Jahr 2011.

Humorvoll und frech erklärt Lena Gorelik in Form eines Briefes ihrem neugeborenen fiktiven Sohn Mischa das Judentum. "Du wirst Zettel mit deinen geheimsten Wünschen in Mauerritzen stecken und wissen, das niemand sie konzentriert lesen und erfüllen wird," liest sie. Es ist sein Schicksal, weil das Judentum keine Religionszugehörigkeit ist, die man durch eine Austrittserklärung abschütteln kann. "Es ist eine geschlossene Veranstaltung. Einmal drin, immer drin." Das hat Lena Gorelik selbst im Kindesalter auf dem Spielplatz im damaligen Leningrad erfahren. Erst nachdem sie andere Kinder als Juden beschimpft hat - Jude war in der Sowjetunion ein Schimpfwort - erklärten ihr die Eltern, dass das keine gute Idee ist, weil sie selbst Jüdin ist. Wenn auch keine gläubige Jüdin, die die 613 Gebote einhält oder den Tag mit einem Gebet beginnt. Und dennoch liegt er ihr im Blut, der jüdische Witz und Scharfsinn.

Er zeigt sich beispielsweise in der Beschreibung ihres melancholischen Hundes Rabbi, der neben einem Bart auch Schläfenlocken hat, koscher isst und samstags nicht Bus fahren will.

Lena Gorelik fühlt sich einer neuen Generation Juden zugehörig, die nicht nur die jüdische Geschichte der Jahre zwischen 1933 und 1945 kennt. Als sie mit ihrer Familie 1992 als Immigrantin in einer Flüchtlingsunterkunft in Ludwigsburg ankam, lernte sie ein Deutschland kennen, das sich schwer tut im Umgang mit Juden. Junge Menschen, die politisch korrekt von jüdischen Mitbürgern statt Juden und der Shoa statt Holocaust sprechen und ängstlich-leise fragen, wie es sich im Täterland lebt.

Jiddisch konnte und kann Lena Gorelik nicht wirklich. Andrea Pancek begleitet und illustriert die Lesung jedoch musikalisch mit einer ganzen Reihe von jiddischen Liedern. Andrea Pancur ist für ihren Alpen-Klezmer bekannt. Sie selbst hat einen slowenischen, nicht etwa jüdischen Hintergrund. Doch auch für ihre Vorfahren, einer slowenischen Bergarbeiter-Familie in Penzberg, stellte der Nationalsozialismus eine Bedrohung dar. Die slawische Verbindung verdeutlicht Andrea Pancur mit ihrem Schlusslied, einem slowenischem Stück. Dessen phonetische Nähe zur russischen Sprache spiegelt die klangliche Nähe von Jiddisch und Deutsch.

Vielleicht ist diese Kombination Ausdruck für den von Lena Gorelik anvisierten neuen Umgang mit der jüdischen Identität. Eine Nicht-Jüdin singt Jiddisch. Eine Sprache, die Lena Gorelik nur noch von Sprüchen ihrer Großmutter kennt. Lena Gorelik und Andrea Pancek kannten sich nicht vor der Veranstaltung. Uta Klose von der Germeringer VHS hat sie zusammengebracht, einer glücklichen Eingebung folgend.

Uta Klose ist es auch, die nach der eigentlichen Lesung das Publikum darauf hinweist, dass nun die einzigartige Chance besteht, die Fragen zu stellen, die man bisher nicht zu fragen wagte. Allerdings zielen die Fragen dann doch nicht so tief auf die jüdische Kultur oder Religion hin, sondern eher auf die Autorin.

Was der Sohn Mischa im Nachhinein zu diesem Buch sage, wird gefragt. Mischa gibt es nicht, ist die überraschende Antwort. Kinder habe sie, sagt Lena Gorelik, aber keinen Mischa. Ob sie seit ihrer Kindheit oft in Russland gewesen sei oder ob sie mit ihren Eltern Deutsch spreche, wie lange es für ein Kind dauere, Deutsch zu lernen und woran Antisemiten Juden auf der Straße erkennen, wenn nicht an der Kippa. Geduldig und eloquent beantwortet Lena Gorelik die Fragen. Dass sie noch immer in der Familie Russisch spreche, dass Kinder schnell Sprachen lernen und dass sie aktuell keinen Hund mehr hat.

© SZ vom 19.10.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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