Germering:Ein kleines Schauspiel

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Sprecher, Schauspieler und Sänger William Cohn liest am bundesweiten Vorlesetag in der Wittelsbacher Mittelschule in Germering aus Michael Ende vor. (Foto: Günther Reger)

Am bundesweiten Vorlesetag schafft es Sprecher William Cohn mit Stimmgewalt und einem souveränen Auftritt, Germeringer Schüler für das Lesen zu begeistern. Zur Seite stehen ihm dabei graue Herren und ein zweigeteilter Dackel

Von Julia Bergmann, Germering

Was in der Wittelsbacher Mittelschule in Germering am Freitag passiert ist, würde selbst den härtesten Kulturpessimisten den berühmten Silberstreifen am geistigen Horizont erkennen lassen. Am bundesweiten Vorlesetag begrüßt die sechste Klasse einen prominenten Gast in ihrer Leseinsel: William Cohn, Sprecher, Sänger und Schauspieler, bekannt unter anderem aus der Late-Night-Satireshow Neo Magazin Royale. Cohn, der gebürtige Kolumbianer mit deutschen Wurzeln und Wiener Vergangenheit, stellt gleich zu Beginn die heiß erwartete Frage: "Wer von Euch liest denn gerne?" Und dann geschieht das Wunder: Alle Hände zeigen nach oben.

Dass es so etwas heute noch gibt, hätte ja kaum einer gewagt zu glauben, aber in Germering ist es Realität. Vor allem deshalb, weil die Schule schon seit Jahren ihren Schwerpunkt auf das Lesen und die Leseförderung legt. In den fünften und sechsten Klassen gibt es eigene Leseschienen, die Schüler werden nach individuellem Kenntnisstand auf drei verschiedene Gruppen eingeteilt. Es gibt Lesepartnerschaften, die Stärkeren unterstützen die Schwächeren. Es gibt die AG Lesen und die Leseinsel, einen Raum, mit gemütlichen Sofas, Sitzplätzen und Bibliothek. "Auf dem Lesen basieren unsere gesamten Kulturtechniken und unsere Bildung", sagt Rektorin Ruth Hellmann. Und selbst wenn das gedruckte Wort immer weiter vom digitalen vertrieben werden sollte, das Lesen wird seine Relevanz wohl kaum verlieren. "Selbst die neuen Medien sind nicht gangbar, wenn man nicht lesen kann." Sigrid Stohl, die Konrektorin erklärt: "Einen großen Teil an Information nehmen wir aus Texten auf. Auch in der Mathematik ist das Lesen die Grundvoraussetzung dafür, um Textaufgaben lösen zu können." Das Lesen wird in der Germeringer Mittelschule also zum Konzept. Und da passt die Teilnahme am Vorlesetag, einer Initiative von der Wochenzeitung Die Zeit, Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung perfekt hinein.

William Cohn liest an diesem Tag aus Michael Endes Momo. Ausgesucht wurde der Text von den Lehrern, denn er passt zum diesjährigen Schulmotto "50 Jahre Wittelsbacher Mittelschule - Wie die Zeit vergeht". In diesem Jahr konzentrieren sich die Schüler auf die Lektüre von Kinderbuchklassikern aus den vergangenen 50 Jahren. Der dunkle Bass von Cohns Stimme erfüllt den Raum, die Passage über die grauen Herren untermalt der Sprecher gestisch. Seine Stimme springt, sie spielt mit den Charakteren der Geschichte. Spricht der graue Herr, verfällt Cohn in einen arrogant-nasalen Singsang. Cohn spielt mehr, als dass er liest und die Kinder sind ganz gebannt. Dann greift Cohn zum Buch "Ich und meine Schwester Klara" und liest die wunderbare Geschichte über ein Geschwisterpaar, das den preisgekrönten Rassedackel der Familie gerecht untereinander aufteilen will und ihn in einem Anflug von kindlicher Anarchie zur Hälfte blond und zur anderen Hälfte schwarz einfärbt. Völlige Begeisterung bei den Zuhörern. Manch ein Sechstklässler zückt den Bleistift um sich den Titel des Buchs zu notieren. Und so hat Cohn innerhalb von Minuten das Ziel des Vorlesetags erreicht.

Nach fast einer Stunde ist der Zauber vorbei, doch der prominente Gast wird noch lange nicht entlassen. Die Fragen der Schüler sprudeln, sie wollen wissen, wie Cohn zu seinem Beruf gekommen ist, welche Länder er bereist hat, welche Sprachen er spricht und wie das genau abläuft, wenn er Opernrollen singt. Und Cohn muss zum Beweis antreten, Englisch, Französisch und Wienerisch sprechen, singen und allem voran: Autogramme schreiben. Die Mädels kichern, der weltmännisch souveräne Cohn, der mit den Kindern ganz offen spricht, kommt an.

Mindestens so sehr, wie der Germeringer Poetry Slammer Martin Pollok, der seine Texte eine Stunde zuvor den Neuntklässlern präsentiert hat und sich mit Künstlernamen Rhymeantiker nennt. Er spricht mit den Schülern über deutschen Rap, über Textinhalte, Musik und über das Schreiben. In seinen Stücken spricht er ernste und aktuelle Themen an, unter anderem den Terror in Paris. Das geht auf. Janina Stumpf und Justin Riedel, die beide gerne Rapmusik hören, sind begeistert, dass sie in der Schule "mal was anderes" geboten kriegen. Oder wie Hellmann sagt: "Wir holen uns eure Welt hier rein, damit ihr unsere mit rausnehmen könnt."

© SZ vom 24.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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