Germering:Die Erscheinung in der Wüste

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Bis in die Puppen wird im Germeringer Jugendzentrum "Outback" manchmal gezockt. (Foto: Reger)

Rollenspiel des Germeringer Vereins Schild und Schwert

Von Stefan Salger, Germering

Ein fernes Rauschen liegt in der Luft. Die Nacht hat ihren Mantel über die Felder und Wiesen gelegt. Das Vordach des kleinen Hauses, das sich unter den Sternenhimmel duckt, schirmt den Eingangsbereich vor dem fahlen Licht der Laterne ab. Der Mond mit seiner schmalen Sichel ist auf dem Rückzug. Die geöffnete Tür gibt den Blick frei auf zwei geheimnisvolle Silhouetten. Hier ist das Ende der Stadt. Geisterstunde.

Alles eine Sache der Perspektive, alles eine Sache der Fantasie. Und es kommt darauf an, wie man es erzählt. Das Szenario in der Nacht auf den Sonntag vor der Jugendbegegnungsstätte Outback am Aubinger Weg, unweit der A 99, ist real. Und doch ist hier das Eintrittstor in eine andere Welt. Eine Welt, die in den Köpfen der Menschen entsteht, die drinnen an zwei Tischen sitzen. Bereits am Freitagabend hat sich hier eine verschworene Gemeinschaft getroffen, die seither in buchdicken Spielanleitungen blättert, sich Notizen macht, mit bizarren, vieleckigen Würfeln hantiert, die wie Smaragde, Saphire oder Diamanten aussehen, miteinander und mit dem jeweiligen "Meister" am Kopfende des Tisches diskutiert. Der Verein Würfel und Schwert richtet seine traditionellen "Germeringer Würfel-Legenden" aus, bekannt in der Szene unter dem Kürzel "Gewüle" - ein Rollenspiel-Marathon, der bis in den Sonntagmorgen reicht. Im Gegensatz zum verkleideten Rollenspiel, bei dem Teilnehmer oft in mittelalterlich anmutende Gewänder schlüpfen und Schwert oder Zauberstab schwingt, heißt die Disziplin an diesem Wochenende "Pen 'n' Paper". Die Teilnehmer sitzen in Gruppen von bis zu sieben Personen "in Zivil" an den Tischen. Mit Stift, Papier, Radiergummi, Gummibärchen, Chips. Einzig realer Zaubertrank als Wachhalter: Kaffee und Energydrinks, die einen durch bis zu zehn Stunden währende Partien in tiefster Nacht helfen.

Nur wer genau hinhört, kann die Abenteuer erahnen, die sich in den Köpfen abspielen. Ein uneingeweihter Frischling, der sich an einen der Tische wagt, wird erst einmal vor einem großen Rätsel stehen. Was passiert hier? Licht ins Dunkle bringen die beiden Silhouetten von eben, die sich entpuppen als Stefanie Pockrandt-Gauderer und Stefan Inhofer, die gerade eine Pause eingelegt haben. Hier die 32-Jährige vom 24 Mitglieder zählenden Germeringer Verein "Würfel und Schwert", die dem Rollenspiel verfallen ist, seit sie elf ist, und dieses Event im Outback organisiert hat, dort der 37-jährige Routinier aus Gernlinden.

Die beiden Insider erklären, was es mit diesem wohltuend analogen und realen Spiel auf sich hat: Jede Runde entwickelt quasi miteinander einen Fantasyroman, der oft im Mittelalter spielt. Teilnehmer wählen sich Rollen aus wie Krieger, Elfe, Heiler oder Kleriker. Die Spielregeln dienen als eine Art Leitplanke. Zwischen ihnen wird eine Geschichte entwickelt, deren Ausgang sich kaum absehen lässt. Auch deshalb, weil die auf einem "Charakterbogen" vorgegebenen Eigenschaften wie Aussehen, Schnelligkeit, Geschicklichkeit, Stärke oder Intelligenz gestärkt oder geschwächt werden - je nach Augenzahl des Würfels. Ist ein Spieler in einem Bereich schwach, kann er sich einen Verbündeten suchen. Es ist wie ein Laien- oder Improvisationstheater mit vorgegebenen Drehbuch-Korsett, ohne Gewähr aufs Happyend. "Man ist drin im Roman, man verliert oder gewinnt aber nicht, man gestaltet und erlebt", sagt Inhofer, "mal spielt man den Polizisten, mal die Leiche". Es sei durchaus schon vorgekommen, so Stefanie Pockrandt-Gauderer, dass sich eine Gruppe gegenseitig fast komplett dahingemeuchelt habe und sich einige Teilnehmer deshalb nur mittels "neu gebauter Charakter" wieder Zutritt zum Spielgeschehen verschaffen konnten.

Akteure agieren in ihren eigenen Universen, am Samstagmittag gibt es derer fünf, in denen sich gleichzeitig 45 Teilnehmer behaupten müssen. Am Tisch von "Meister" Tobias Gauderer, 35, der unter einem Route-66-Plakat und vor einem Stapel Papiere sitzt, geht es in der Nacht auf den Sonntag um eine Karawane, die auf ihrer nächtlichen Etappe einer mystischen Erscheinung gewahr wird, die immer wieder zu zerfallen scheint. Ein Geist? Gut? Böse? Immer mehr Details kristallisieren sich in der diffusen Staubwolke. Wer mehr erfahren will, darf sich drei oder vier Stunden gedulden. Der Weg ist das Ziel, ob auf der Route 66 oder in der Wüste. Die Karawane zieht weiter.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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