Germering:Antwort auf die Wegwerfgesellschaft

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Die Gründung des Germeringer Zeittauschvereins vor fast 20 Jahren sollte ein Akt politischen Widerstands sein. Seine Mitglieder tauschen auch heute noch Dienstleistungen untereinander und verzichten dabei völlig auf Geld

Von Julia Kiemer, Germering

Wer kennt das nicht: Die Steuererklärung ist wieder fällig und man hat weder Ahnung noch Überblick. Das Schuljahr ist fast beendet, das Bestehen der Klasse des Kindes hängt von der letzten Schulaufgabe in Mathematik ab. Oder das neue Kleid ist kaputt und muss genäht werden, selbst könnte man das aber eher schlecht als recht. Abhilfe könnten dabei ein Steuerberater, ein Nachhilfelehrer oder ein Schneider schaffen, doch guter Rat ist oft teuer. Es sind ganz alltägliche Probleme, denen man immer wieder begegnet. Im Idealfall hat man Freunde oder Nachbarn, die einem weiterhelfen. Doch die sind nicht immer verfügbar oder gewillt, den Dienst zu leisten. Der Zeittauschring "Lets" kann in diesem Fall die Lösung des Problems sein. Und das, ohne dass man Geld bezahlt.

"LETS" steht für Local Exchange Trading System, zu Deutsch lokales Tausch- und Handelssystem. Hinter dem Namen verbirgt sich ein zinsloses Tausch- und Verrechnungssystem. Wie eine Nachbarschaftshilfe im erweiterten Sinn. Die Mitglieder können Dienstleistungen und Waren untereinander tauschen. Getauscht wird jedoch nicht direkt, man muss also niemand finden, der genau das anbietet, was man sucht und auch genau das braucht, was man anbietet. Stattdessen wird die benötigte Zeit für die getauschte Dienstleistung auf einem Konto gutgeschrieben. "Es ist eben ein indirekter Tausch", so Christine Kiener, Organisatorin von Lets in Germering. Sollte man einmal mehr Dienstleistungen in Anspruch genommen haben, als man selbst geholfen hat, fallen bei einem Minuskontostand keine Zinsen an. "Wir wollen das Dorf in die Stadt zurückbringen", erzählt Kiener. Dort würde es ohne Verrechnungssystem prima funktionieren, in der Stadt meist weniger.

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(Foto: Günther Reger)

Bei der Lets-Börse kann man zum Beispiel eine Tasche zur Reparatur bringen.

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(Foto: Günther Reger)

Für diese Dienstleistung wird die benötigte Zeit auf einem Konto in der Währung "Talente" gutgeschrieben.

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(Foto: Günther Reger)

In lockerer Runde wird bei Lets beraten.

Schon seit 1997 wird in Germering fleißig getauscht. Nachdem es im Landkreis die Orte Puchheim und Fürstenfeldbruck schon vorgemacht hatten, wollten Renate Börger, Jürgen Wrede und Werner Clauss auch in Germering den Trend fortsetzen und eine lokale Tauschbörse gründen. Anfangs sei diese sehr politisch motiviert gewesen, erzählt Kiener. Die 70-Jährige ist seit Gründung der Initiative dabei, vorher hatte sie auch die Anfänge des Tauschens in Puchheim und Fürstenfeldbruck miterlebt. Die Intentionen der Gründer waren vielseitig. Einerseits wollte man den Kontakt untereinander und die Gleichwertigkeit jeglicher Arbeit fördern, aber auch der Überbewertung des Geldes entgegen wirken. Auch vor dem Hintergrund des in den Neunzigern immer wichtiger werdenden Themas "Ressourcenschonung" sollte der Tauschring eine Antwort auf die Wegwerfgesellschaft sein. Wirtschaften im Dienst der Menschen statt Rendite und die Nutzung der eigenen Talente anstelle von endlosem Konsum - das war die Devise des gerade gegründeten Tauschrings.

"Es war zu Beginn eine Art politischer Widerstand", so Kiener. Es wurden wirtschaftliche Vorträge gehalten, über die Theorien der Wirtschaftsordnung, über die Alleinstellung des Geldes, unter anderem hielt die Vorträge sogar Helmut Creutz, ein bekannter deutscher Wirtschaftsanalytiker. Auch Politiker der Grünen seien beim Tauschring anfangs sehr engagiert gewesen. Überhaupt kam die "alternative Wirtschaftsform" an, es lief gut, das Tauschen boomte regelrecht. "Es war eben etwas Unbekanntes, da war jeder neugierig, erzählt die Germeringerin. Rund 40 Mitglieder zählte der Tauschring zu Beginn, heute sind es etwa 50 Mitglieder. Aber nur gut die Hälfte tausche aktiv. Und von der anfänglichen politischen Ausrichtung sei mittlerweile nicht mehr viel übrig, fügt sie hinzu. Sonst laufe das Tauschgeschäft aber noch gut.

Bei Lets hat jedes Mitglied ein eigenes Konto. Eine verrichtete oder in Anspruch genommene Dienstleistung wird abhängig von der Dauer der Leistung in der Währungseinheit "Talente" auf dem Konto verrechnet. Welche Arbeit oder wer die Arbeit verrichtet hat, ob Mann oder Frau, spielt dabei keine Rolle. Das Tauschmittel ist im Prinzip nur Zeit. 20 Talente entsprechen dabei einer Stunde. Die Verbuchung erfolgt über Schecks. "Damit gehören wir jetzt zu den Dinosauriern", erzählt die Organisatorin. Alle umliegenden Tauschringe würden bereits seit einigen Jahren mit Tauschheften arbeiten, aber die Schecks hätten sich bei ihnen nach wie vor bewährt. Hilft also Frau Meier Herrn Müller eine Stunde lang mit der Gartenarbeit, so stellt Herr Müller seiner Kollegin Meier einen Scheck über 20 Talente aus. Diese werden dann auf das Konto von Frau Meier gebucht und von Herr Müllers Konto werden 20 Talente abgezogen. Mit den erworbenen Talenten könnte sich Frau Meier etwa die Haare schneiden lassen oder ein anderes der zahlreichen Angebote wahrnehmen. Drei Talente im Monat werden den Mitglieder für organisatorische Arbeiten, wie das Verbuchen der Schecks oder das Erstellen der Marktzeitung, abgezogen. In der Marktzeitschrift, die zweimal im Jahr erscheint, können sich die Mitglieder über Angebote informieren. Jeder Teilnehmer kann selbst entscheiden, was er anbieten möchte. Ob Spanischunterricht, Fußpflege, Gartenarbeit, Näharbeiten, Hilfe bei Festen, Babysitten oder auch Ernährungsberatung, über zu wenig Auswahl können sich die Interessenten nicht beschweren. Eine Garantie für die Qualität der Arbeit könne man nicht geben, deshalb solle man vorher über die Anforderungen sprechen, empfiehlt Kiener. Alle zwei Monate treffen sich die Mitglieder zudem im Frauen- und Mütterzentrum Germering, Frau MütZe. Bei den Treffen können sie sich austauschen und aktuelle oder neue Angebote diskutieren. Manchmal seien auch Mitglieder von benachbarten Tauschringen dabei, das Tauschen zwischen den "Nachbarn" sei kein Problem, erzählt die Germeringerin.

Durch den Tauschring habe sie einige Menschen kennengelernt, die sie sonst vermutlich nie getroffen hätte. Zudem habe sie auch ihre Skepsis gewissen Dingen gegenüber ablegen können, wie etwa der psychologischen Astrologie, erzählt die 70-Jährige: "Man kommt mit Themen in Berührung, mit denen man sich sonst nicht beschäftigt hätte. Dadurch bricht man Barrieren und gewisse Vorstellungen auf und weitet seinen Blick." Zudem schätze man den Wert der Dinge wieder mehr. Problematisch für den Zeittauschring sei das "Aussterben" der Hausfrauen. Denn im Wesentlichen solle man präsent sein, als Vollzeit-Berufstätige sei das oft schwer. Aber auch nicht unmöglich, fügt Kiener hinzu. Mitmachen könne bei Lets jeder, der bereit sei, eine neue Form des Austauschs auszuprobieren. Und im Grunde genommen gehe es darum, Talente zu entdecken, richtig einzusetzen und Menschen kennen zu lernen, sich auszutauschen und zu helfen. Eben eine funktionierende Nachbarschaftshilfe aufzubauen.

© SZ vom 04.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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