Germering:Alkohol, Sex und jemand, der zuhört

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Auch im Landkreis gibt es verstörende Jugendmilieus. Das wird bei einem Prozess vor dem Landgericht deutlich

Von Florian J. Haamann, Germering

Es ist das düstere Bild einer Jugendszene, wie man es sich von den dunkelsten Ecken der Großstadt malt: Verlorene Jugendliche hängen am Bahnhof ab, freunden sich mit zwielichtigen Unbekannten an und tun Dinge, die ihrem Alter so gar nicht entsprechen. Dass so etwas aber nicht nur weit weg von der beschaulichen Vorstadtidylle passiert, sondern auch mitten darin, das wurde bei einem Prozess wegen schwerem sexuellen Missbrauchs eines Kindes deutlich.

Eine 13-Jährige hatte behauptet, eine Beziehung mit einem 29-Jährigen gehabt zu haben, in der es auch zum Geschlechtsverkehr gekommen sein soll. Der Angeklagte bestritt jedoch die Beziehung komplett. Er wurde freigesprochen, weil das Gericht die Geschichte des Mädchens nicht glaubte. Genauso erschütternd wie der Prozess selbst war allerdings das, was man über das Leben der 13-Jährigen und ihrer Freundinnen erfahren hat.

So gab schon einmal einen Prozess mit der 13-Jährigen, weil sie behauptet hatte, vergewaltigt worden zu sein. Am Ende stellte sich heraus, dass der Geschlechtsverkehr freiwillig war, der Angeklagte wurde trotzdem verurteilt - wegen sexuellem Missbrauchs. Er war damals 17 Jahre alt, das Mädchen zwölf. Dazu gekommen ist es in der Wohnung eines Freundes. Das Mädchen war bei dem erwachsenen Mann und dessen Ehefrau zu Besuch. Es wurde ordentlich Alkohol getrunken, und als die beiden Gastgeber ins Bett gingen, schlief das Mädchen mit dem ebenfalls anwesenden 17-Jährigen.

Kennen gelernt haben sich das Mädchen und der Gastgeber am Germeringer Bahnhof, ihrem Lieblingsaufenthaltsort. Dorthin hat sich die 13-Jährige verzogen, wenn sie "keinen Bock" auf zu Hause hatte. Und das kam oft vor, tagsüber, vor allem aber auch am Abend und in der Nacht. Am Bahnhof hat sie sich mit anderen Personen angefreundet, mit ihnen geredet, wohl auch getrunken. Bisweilen hatte sie so wenig Lust auf ihr Zuhause, dass sie gleich nächtelang wegblieb und bei einem der Bekannten vom Bahnhof schlief.

Vor dem Landgericht machten die Aussagen des Mädchens und seiner Freundinnen, die alle zwischen 13 und 15 Jahre alt sind, auch deutlich, dass Sex eines der Hauptgesprächsthemen war. Aber nicht in dem Sinne, dass man sich darüber unterhält, welche Jungs man süß findet und mit wem man denn gerne sein erstes Mal hätte und wie man sich das vorstellt. Sondern vielmehr, mit wem man es denn schon gemacht hat und wie. Ob sie wisse, dass die 13-Jährige schon mit mehreren Männern Verkehr hatte, wurde eine Freundin gefragt. "Ich glaube schon. Aber das ist doch normal. Wenn man jung ist, da tobt man sich eben aus." Worte, die aus dem Mund einer 15-Jährigen aufhorchen lassen. "Es ist auch von Analverkehr die Rede gewesen", sagte die Richterin und fragte, "weißt du, was das ist?" "Natürlich!"

Endgültig schockiert durfte man als Zuhörer dann sein, als eines der Mädchen, gerade mal 13 Jahre alt, gefragt wurde, ob man sich auch darüber unterhalten habe, Sex gegen Geld zu haben. "Ja, wir haben uns oft darüber unterhalten und überlegt, ob wir das machen sollen. Aber ich glaube, sie hat es nicht gemacht. Und ich bisher auch noch nicht."

So abgeklärt und teilweise distanziert die Mädchen von ihren sexuellen Erfahrungen erzählen konnten, so fremd schienen ihnen dabei Emotionen zu sein. Wo der Unterschied zwischen Geschlechtsverkehr und Schuhebinden sei, wurde die 13-Jährige gefragt? "Das ist doch das gleiche." Wie sich der Geschlechtsverkehr angefühlt habe? "Normal." Ob sie schon einmal verliebt gewesen sei? "Ich glaube schon." Und in wen? "Keine Ahnung."

Die Fremden vom Bahnhof, die dann ihre Freunde geworden sind, hätten ihre Probleme verstanden, erklärte die 13-Jährige. Mit ihnen habe sie reden können. Worüber genau, das konnte sie zwar nicht sagen. Dass es große Probleme gibt und sie mit der Situation eben nicht so glücklich ist, wie sie behauptet hat, wurde nicht nur aus ihrem Verhalten deutlich. Auch, dass sie sich regelmäßig geritzt, also selbst verletzt hat, spricht für tiefe psychische Probleme - etwas, was all die auftretenden Mädchen verbunden hat. Kennen gelernt haben sie sich jeweils bei verschiedenen Heimaufenthalten. Was genau ihr widerfahren ist und wo, das konnte oder wollte die 13-Jährige nicht sagen. Deutlich wurde nur, dass das Mädchen vom Germeringer Bahnhof dort vor allem eins sucht: Halt, den sie sonst eben nirgends findet.

© SZ vom 08.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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