Einsatzbereitschaft:Notärzte werden knapp

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Jede Minute zählt: Notarzt Daniel Wachter bereitet sich in Gröbenzell auf einen Einsatz vor. (Foto: Johannes Simon)

Erstmals ist in Gröbenzell ein Rettungswagen unbesetzt geblieben: Mediziner geben der Kassenärztlichen Vereinigung die Schuld an der abnehmenden Einsatzbereitschaft, weil die Hilfe bei Unfällen in einsatzreichen Regionen schlechter bezahlt wird als früher

Von Julia Bergmann, Fürstenfeldbruck

Seit 30 Jahren hat es das, was in der Rettungswache in Gröbenzell eingetreten ist, noch nicht gegeben. Der Notarztwagen blieb zum ersten Mal seit Bestehen der Rettungswache unbesetzt. Es war ein Tag im April und niemand ließ sich finden, der den Notarztdienst übernehmen konnte. Bisher ein Einzelfall, aber die Sprecher der Notarztteams im Landkreis sind alarmiert. Eine Situation wie im April könnte es in Zukunft öfter geben, befürchten sie. Mit weitreichenden Folgen für die Patienten. Tritt ein Notfall ein, muss ein Arzt aus einer weiter entfernten Wache anfahren. Bis er am Unfallort ankommt, muss der Patient unter Umständen länger warten. Doch im Notfall zählt jede Minute. Der Grund für die Situation in Gröbenzell - unter den Medizinern ist man sich einig - sind die Änderungen im Honorarsystem für Notärzte.

Die Kassenärztliche Vereinigung Bayern (KVB) hat die Änderungen zu Beginn des Jahres nach langwierigen Verhandlungen mit den Krankenkassen eingeführt. Das neue System sei daran schuld, dass Notärzte für ihren Dienst schlechter bezahlt werden - zumindest in städtischen Regionen. Der Notarztdienst sei für Ärzte im Ballungsraum unattraktiv, geradezu finanziell untragbar geworden, kritisieren Mediziner. Die Folgen davon sind kein Exklusiv-Problem Gröbenzells, sie lassen deutschlandweit Notärzte an ihre Grenzen stoßen. Das eigentliche Ziel der KVB, Notärzte in ländlicheren Regionen besser zu vergüten und damit neues Personal zu gewinnen, sei auch ein halbes Jahr nach Einführung nicht erreicht, heißt es aus Kreisen der Mediziner. Viel schlimmer noch: Auch in strukturstarken Gegenden kommt es jetzt zu Engpässen. Sogar in manchen Teilen Münchens, wo es bisher nie personelle Probleme gegeben hat, zeigen sich Engpässe. Der Ärger der Mediziner auf die KVB wächst.

Im Landkreis Fürstenfeldbruck gibt es insgesamt zwei Notarztstandpunkte. Jenen in Gröbenzell, der mit Germering zusammengelegt ist, und einen weiteren in Fürstenfeldbruck. In Fürstenfeldbruck sei es bisher noch nicht zu Ausfällen gekommen. "Aber es wird zunehmend schwieriger, die Leute für den Dienst zu motivieren", sagt Richard Spitz, der Notarztsprecher am Standort Fürstenfeldbruck, der mit acht Einsätzen pro 24 Stunden zu den einsatzreicheren gehört.

Immerhin leisten Notärzte den Dienst bisher freiwillig und neben ihrer Tätigkeit als niedergelassene oder Klinikärzte. Gerade für einen niedergelassenen Arzt rechne sich der Notarztdienst seit Einführung des neuen Honorarsystems einfach nicht mehr, führt Daniel Wachter, Notarztsprecher am Standort Gröbenzell/Germering, aus. Wenn der Arzt zu einem Einsatz gerufen wird, muss er seine reguläre Sprechstunde abbrechen. Die Patienten warten unter Umständen stundenlang auf seine Rückkehr oder gehen gleich nach Hause. Ob sie wieder kommen, sei fraglich. Patienten brechen weg, wirtschaftliche Einbußen sind die Folge. Bisher habe das Honorar im Notarztdienst diese Einbußen leidlich ausgleichen können. Mit der Kürzung der Einsatzpauschale von 111 auf 45 Euro und den Änderungen bei den Zeitzuschlägen sei das nicht mehr der Fall. Es stimme zwar, dass die Bezahlung im Bereitschaftsdienst gestiegen ist, aber auffangen könne sie die Einbußen nicht, so Wachter.

Natürlich kennen die Notärzte die Vorwürfe, sie würden in dieser Diskussion lediglich auf ihre finanziellen Vorteile pochen. Auf sich sitzen lassen wollen sie diese Unterstellung aber nicht. "45 Euro für einen lebensrettenden Einsatz sind relativ schwach", sagt Spitz. Immerhin, als Notarzt gibt man im Ernstfall alles, leistet anspruchsvolle Arbeit unter schwersten Bedingungen. "Es ist ein hoch belastender und verantwortungsvoller Job. Ich glaube es ist legitim, dafür adäquat vergütet werden zu wollen", betont Spitz.

Allein dieser Umstand sei ärgerlich, doch damit nicht genug. Die intransparente Informationspolitik der KVB schürt die Wut der Notärzte zusätzlich. "Am 15. Dezember haben wir ein Schreiben von der KVB erhalten, in dem wir über die Änderungen im Honorarsystem informiert wurden. Bereits 14 Tage später sind die Änderungen in Kraft getreten", erzählt einer der Betroffenen. Sie seien ihnen viel zu kurzfristig "vor den Latz geknallt worden", so die Kritik. Man stand vor vollendeten Tatsachen.

"Und dann verbreitet die KVB noch Jubelmeldungen über den Erfolg des neuen Systems", beschwert sich ein Kollege. Lächerlich sei das und zudem nicht wahr. Auf dem Blog der KVB heißt es, die Lage in strukturschwachen Gegenden habe sich seit Jahresbeginn deutlich entspannt. "Gerade in den ländlichen Regionen mit wenigen Einsätzen und weiten Fahrtstrecken, in denen bisher kaum mehr aktive Notärzte zu gewinnen waren, melden sich inzwischen immer mehr Interessierte für die Dienste", ist dort zu lesen. Unter dem Artikel erzählen die Kommentare von Notärzten, auch aus ländlichen Regionen, eine ganz andere Geschichte. Keinen einzigen Kollegen habe er seit der Einführung des neuen Systems hinzugewonnen, erklärt einer von ihnen. Einige Kollegen schließen sich an. Handelt es sich dabei um unglücklich Einzelstimmen?

Die KVB sieht das so. Auch auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung betont eine Sprecherin, man habe "einige wesentliche Ziele" erreichen können. "Wir haben erreicht, dass 75 Prozent der Standorte durch diese neue Vergütungssystematik gestärkt werden", heißt es. Zudem habe man eine wesentlich höhere Grundvergütung für alle Standorte erreicht. Das sei zwar richtig, aber die Verluste werden im nachhinein höchstens auf 15 Prozent gedeckelt, kritisieren Mediziner. Die Frage, ob sich die Situation in städtischen Regionen seit Einführung der Änderungen zugespitzt hat, wird von der KVB nicht beantwortet. Es heißt lediglich: Es "konnte beispielsweise eine Verlustbegrenzung mit den Kostenträgern vor allem für einsatzstarke Standorte vereinbart werden".

An den Aussagen der KVB gibt es dennoch Zweifel. Der Süddeutschen Zeitung liegen insgesamt 83 E-Mails der KVB aus einem Zeitraum von drei Monaten vor, in denen nach sogenannten Notarzt-Springern an verschiedenen Orten, ländlich und städtisch, gesucht wird. Mitunter für fünf verschiedene Schichten pro Einsatzort. Vor der Einführung des Systems habe es etwa zwei derartige E-Mails pro Woche gegeben, versichern verschiedene Quellen. Und in den einzelnen E-Mails wurden zuvor nur jeweils für eine Schicht pro Einsatzort jeweils ein Notarzt gesucht.

Unter dem Blogeintrag finden sich zudem Kommentare, die der KVB vorwerfen, durch die Reform die Notarzttätigkeit systematisch unattraktiv machen zu wollen. Auch Spitz äußert sich hierzu kritisch. "Der Notarztdienst ist teuer. Es sieht für mich so aus, als wolle man ihn gezielt ausbluten lassen", meint er. Er vermutet einen Zusammenhang mit dem Notfallsanitätergesetz, welches dieser Berufsgruppe mehr Kompetenzen zubilligt. Im schlimmsten Fall könnten Notärzte bald durch billigere Notfallsanitäter ersetzt werden, verheerend für die Patienten. "Sie bekommen dann eine schlechtere Versorgung. Einen Notarzt-Light sozusagen." Zu Annahmen, wie dieser, teilt die KVB mit: "Aus Sicht des Vorstands der KVB sind dies in der Tat reine Spekulationen und entbehren - zumindest wenn es um die Meinung der KVB geht - jeglicher Grundlage." Für den Standort Gröbenzell, teilt die KVB mit, führe man aktuell ein Nachrückverfahren mit drei Notarztbesetzungen durch. Wachter weiß davon. Bereits mehrfach habe man Nachrücker bekommen. Das Problem an der Sache sei, dass viele der Ärzte beruflich noch anderweitig gebunden seien. "Nachrücker können dann unter Umständen nur ein bis zwei Schichten pro Monat übernehmen", sagt Wachter.

© SZ vom 13.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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