SZ-Serie: "Inklusion" (Teil 20 und Schluss):Zu viele Widerstände

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Ob auf Bundesebene oder im Kreis - behinderte Menschen brauchen eine starke Lobby, um ihre Rechte durchzusetzen

Von Erich C. Setzwein, Fürstenfeldbruck

Welche Rechte hat ein Behinderter? Braucht er überhaupt welche, der Staat hilft ihm doch, wo es geht? Eigentlich müsste es doch genügen, wenn sich ein Mensch mit Handicap auf die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen beruft. Da steht doch alles drin, was Teilhabe ausmacht. Stimmt: Solche Aussagen sind überspitzt, aber solche Sätze fallen, wenn es um Behinderte geht. Und egal, ob es sich um eine "angeborene" Behinderung oder eine Einschränkung im Alter handelt. Rechtlos sind Behinderte in Deutschland keineswegs, immerhin wird derzeit der Entwurf für eine Teilhabegesetz diskutiert, über den das Arbeits- und Sozialministerium stolz ist. Doch die gesetzlichen Festlegungen bringen Lobbyisten für die Rechte Behinderter in Rage. Dabei soll dieses Gesetz doch zum Ausdruck bringen und regeln, wie in Deutschland mit Behinderten umgegangen wird. Doch Menschen, die wie der Geschäftsführer des Sozialverbandes VdK in Fürstenfeldbruck, Felix Hechtel, tagtäglich mit den Sorgen und Nöten von kranken, behinderten oder sozial schwachen Mitgliedern zu tun haben, sehen in dem Gesetz kein Allheilmittel. Auf Bundesebene ist es die Stimme von Raul Krauthausen, einem Behindertenaktivisten und Blogger, der keine Gelegenheit verstreichen lässt, um darauf hinzuweisen, dass eine wirkliche Teilhabe mit diesem neuen Gesetz - würde es in dieser Fassung in Kraft treten - nicht gewährleistet sein dürfte.

Denn behinderte Menschen, denen der Staat mit Leistungen aus der Sozialhilfe beisteht, werden nicht anders behandelt als andere Sozialhilfeempfänger. Der Verdienst liegt höchstens beim doppelten Satz von Hartz IV, das Vermögen darf gar nur 2600 Euro betragen, eine private Lebensversicherung ist nicht möglich, erben kann ein Behinderter im Grunde auch nicht, und will er heiraten, so haftet der Partner gleich mit. Geprüft wird das von der Sozialbehörde und stellt diese fest, dass Vermögen vorhanden ist, muss dieses für die Betreuung aufgewendet werden. Krauthausen und andere argumentieren nun, dass viele Behinderte im Unterschied zu anderen Sozialhilfeempfängern oder Menschen, die mit Hartz IV auskommen müssen, ihr Leben lang auf fremde Hilfe und Unterstützung durch den Staat angewiesen seien, Arbeitslose aber dagegen im besten Falle nur eine gewisse Zeit. Die Ausgaben für Assistenten, wie sie der an Glasknochenkrankheit leidende Krauthausen benötigt, könne ein Behinderter aber nicht aus eigenen Ressourcen aufbringen.

Für VdK-Geschäftsführer Felix Hechtel, ist das nichts Neues. Das Sozialrecht ist die Spezialität des Sozialverbandes, und die Zahl der Widersprüche und Klagen ist hoch. Auch im Landkreis Fürstenfeldbruck. Hechtel berichtet von einem Arbeitnehmer, Anfang 40, der nach einer Krankheit gehbehindert und deshalb auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Nähere Angaben kann Hechtel nicht machen, er versichert, der Fall sei wahr, aber die Person müsse geschützt werden. Da der Mann im ersten Stock wohnt, ihm geholfen werden muss und er mit dem Taxi zur Arbeit gebracht wird, entstehen Kosten. Die Rentenversicherung übernimmt zwar die Beförderungskosten, befristet die Zahlung aber. Weil die Kosten nicht weiter übernommen werden, fallen für den Behinderten diese Kosten an. Lange kann er die aber bei seinem Gehalt nicht bezahlen, die psychische Belastung wird größer, und schließlich wendet er sich Hilfe suchend an den VdK. "Wer ist zuständig?", fragt Hechtel, und setzt damit einen Schriftverkehr in Gang, um die "Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben" für das Mitglied zu bekommen. Hechtel erinnert sich: "Es dauerte zweieinhalb Monate, bis die Zusage kam, und das erst nach einem Widerspruchsverfahren, die Kosten würden wieder übernommen. Aber auf einem Monat und damit 540 Euro blieb der Mann sitzen. Für manche vielleicht verschmerzbar - für einen Schwerbehinderten kaum.

Wenn Hechtel und die Mitarbeiter des VdK oder anderer Verbände und Hilfevereine ihren Mitgliedern zur Seite stehen, ist oft das neue Sozialgesetzbuch (SGB IX) Ausgangspunkt für die Leistungen, die für Rehabilitation und die Betreuung von Behinderten zur Verfügung stehen. In Paragraf eins mit dem Titel "Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" ist zu lesen, dass Behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen Leistungen erhalten "nach diesem Buch und den für die Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen, um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken". Dabei werde den besonderen Bedürfnissen behinderter und von Behinderung bedrohter Frauen und Kinder Rechnung getragen. Auch wird der Begriff "behindert" definiert. Und in langen Absätzen wird aufgeführt, welche Leistungen zur Verfügung stünden.

Die bundesrechtliche Regelung über die Kriterien, die eine Pflegedienstleitung eines ambulanten Pflegedienstes erfüllen muss, sind im Elften Buch des Sozialgesetzbuches vorgeschrieben. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Doch dieses Gesetzbuch regelt allein nichts, es ist, wie Hechtel es bezeichnet, ein "Verweisgesetz". Deshalb fühle sich auch kein Träger zuständig, die Fälle würden nur hin- und hergeschoben: "Viele Sozialversicherungsträger halten sich nicht an die Gesetze", klagt Hechtel und schätzt, "dass ein Drittel der Widerspruchsverfahren vermieden werden könnte." Die Kosten für diese Verfahren sind teilweise hoch, die Dauer der Verfahren oft lang und zermürbend. "Wir müssen den Widerstand brechen, damit die Träger was bringen", sagt Hechtel kämpferisch. So wie etwa in dem Fall, als einem länger kranken Arbeitnehmer das Krankengeld gestrichen wurde, weil der Medizinische Dienst der Krankenkassen nach Aktenlage entschieden hatte. Der Mann sei arbeitsfähig, hieß es, also stellte die Krankenkasse die Zahlung ein. Zehn Wochen dauerte es schließlich, bis der Familienvater, Mitte 40, als Alleinverdiener wieder Krankengeld bekam.

Auch die Pflegekassen sitzen laut Hechtel gerne auf ihrem Geld. So wollte eine Rentnerin, die ihren behinderten Mann pflegt, eine Badewanne umbauen lassen. Die beiden sind in den Siebzigern, da fällt das Bücken schwer, und Heben geht schon gleich gar nicht. Hechtel sagt, sogenannte wohnumfeldverbessernde Maßnahmen seien erforderlich gewesen. Die näheren Umstände dieses Falles seien zwar schwierig gewesen, aber letztlich sei das Verfahren für die Mitglieder erfolgreich abgeschlossen worden.

Dass sich nicht nur die Träger von Sozialleistungen ganz gerne wegducken, sondern auch der Staat nicht gerne Konsequenzen bei Behindertenrechten aufzeigt, das schließt Felix Hechtel aus dem Entwurf zum Bundesteilhabegesetz, das Behindertenverbände und eben auch Aktivist Raul Krauthausen ablehnen und die Kampagne sogar mit dem Hashtag #NichtMeinGesetz versehen haben, um die Diskussion im Internet schnell aufnehmen und fortführen zu können.

So kennt Hechtel den Fall eines jungen Mannes aus dem Landkreis, der arbeiten möchte und kann, aber behindert ist und deshalb auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Job findet. Es wäre etwas mehr Betreuung nötig, doch kein Arbeitgeber sei bereit, diese zu leisten. Dass Unternehmen verpflichtet werden können, Behinderte anzustellen, das scheitert nach Hechtels Worten schon daran, dass im neuen Bundesteilhabegesetz stehen soll, dass sich lediglich staatliche Unternehmen an dieses Passus zu halten hätten. Für private Unternehmer bleibe es bei einer Art Selbstverpflichtung.

"Das ist genauso wie beim Schwerbehindertengesetz. Wer keinen Schwerbehinderten aufnehmen will und als Firma seine Quote nicht erfüllt, zahlt einen Ausgleich", sagt der Sozialrechtsexperte. Und die Unternehmen würden lieber zahlen, als einen Behinderten einzustellen.

© SZ vom 14.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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