Fremdgänger:Outing an der Ampel

Lesezeit: 2 min

In Paris Fahrrad zu fahren ist nichts für Freunde von geregeltem Straßenverkehr

Von Anne Gerstenberg

Anne Gerstenberg, eine der Fremdgänger-Autorinnen, erzählt vom Leben und Studieren in Paris. (Foto: privat)

Ich spüre einen scharfen Luftzug an meinem Handgelenk, das Geräusch eines Motors reißt mich aus den Gedanken. Jaulend rauscht ein Roller denkbar knapp an mir vorbei. Einen Zentimeter weiter links, ein unbedachter Schlenker - und das wäre es mit mir gewesen. Mit solchen Gedanken muss ich mich in Paris jeden Tag auseinandersetzen. Ich sitze auf dem Fahrrad und fahre den Boulevard Saint-Germain entlang. Schön ist das, dachte ich früher, nur so kann die Stadt besser kennenlernen. Fahrrad fahren, das lohnt sich! Aber Schreckmomente, wie dieser, häufen sich. Als ich endlich an der Uni ankomme, bin ich völlig fertig mit den Nerven.

In Paris Fahrrad zu fahren, ist nichts für Freunde von geregeltem Straßenverkehr. Es gibt etwa keine Haltelinien für Autos an Ampeln, hier hält man nach Gefühl. Ein einziges Mal bin ich in Paris mit einem Einheimischen Auto gefahren. "Tempo 50", erklärt er mir, "ist in Paris nur eine freundliche Empfehlung." Was dann gelte, frage ich. "Tempo 70", sagt er kurz. Er zwinkert mir zu, schnallt sich nicht an und gibt Gas. Damit begann die größte Höllenfahrt meines Lebens. Rote Ampeln? Für ihn nicht existent. Fußgänger? Fahrradfahrer? Andere Autos? Wer nicht selbst ausweicht, hat Pech gehabt. Am Anfang habe ich noch alle zwei Sekunden "Vorsicht!" gebrüllt, dann habe ich es aufgegeben und mich mit geschlossenen Augen meinem Schicksal ergeben - verbunden mit der Hoffnung, dass ich und alle anderen Verkehrsteilnehmer diesen Höllenritt lebendig überstehen.

So viel zu den Autofahrern. Am schlimmsten sind allerdings die Fußgänger. Es gilt als elegant, die Straße nach Belieben an jeder Stelle und ohne Seitenblicke zu überqueren. Um an dieser Stelle meine absolut favorisierte Autorin Anna Gavalda zu zitieren: "Hinweis: Eine Pariserin, die etwas auf sich hält, überquert den Boulevard Saint-Germain niemals zwischen den weißen Linien an der Ampel. Eine Pariserin, die etwas auf sich hält, beobachtet den Verkehr und wirft sich zwischen die Autos, wohl wissend, dass sie ihr Leben riskiert." Als Tourist outet sich, wer die Fußgängerüberwege nutzt. Anfangs blickte ich meine französischen Freunde immer entgeistert an, wenn sie einfach bei Rot über die Straße liefen: "Du weißt schon, dass du in Deutschland dafür deinen Führerschein verlieren würdest?" In besonders schweren Fällen zumindest.

Zurück in München dann der Kulturschock. Ich bin mit Freunden unterwegs. Es ist mitten in der Nacht. Die Straße ist komplett leer und verlassen, weit und breit kein Auto in Sicht. Ich überquere wie selbstverständlich die leere Straße - Und komme auf der anderen Seite alleine an. Hinter mir wartet die restliche Gruppe brav an der roten Ampel. Entgeisterte Blicke mustern mich von der anderen Seite der Straße. Ich merke, dass ich wohl ein bisschen pariserisch geworden bin.

© SZ vom 03.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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