Fremdgänger:Gedichte da, Geld weg

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Wer in München aufgewachsen ist, der hält die Stadt für ein großes Wohnzimmer. In Paris ist das krass anders

Von Anne Gerstenberg

Als ich eine leichte Berührung an meiner Tasche spüre, greife ich panisch fester nach ihr. Solche Reaktionen sind für mich in Paris alltäglich geworden. Jemand geht verdächtig nah an mir vorbei, und ich zucke zusammen. Denn Taschendiebstähle sind in Paris so normal wie die Stammstreckensperrungen in München. Ein Übel, das - wenn es passiert - große Unannehmlichkeiten bereitet, aber in seiner Unvermeidbarkeit wie selbstverständlich hingenommen wird. Fast regelmäßig erzählt mir jemand, dass ihm etwas geklaut wurde: die Handtasche, der Geldbeutel, das Handy. Das ist für mich eine ganz neue Erfahrung.

Wer in München aufgewachsen ist, der bewegt sich mit einer völlig naiven Vorstellung von Unverwundbarkeit durch die Welt. Denn den meisten ist noch nie in irgendeiner Form Übel widerfahren, man kennt es gar nicht. Gewalt oder Gesetzeswidrigkeit bekommt man in München nur äußert selten zu Gesicht. Das Wohlleben in München geht so weit, dass man durch die Stadt läuft mit einem Gefühl von Sicherheit, als wäre man in seinem eigenen Wohnzimmer. Nie im Leben wäre mir in München der Gedanke gekommen, auf meine Sachen acht zu geben. Wenn ich meine Jacke im Englischen Garten liegen gelassen habe, bin ich einfach eine Stunde später wieder zurückgegangen und sie ist immer noch da gewesen. Einmal machte mich eine ältere Münchnerin sehr besorgt in der U-Bahn darauf aufmerksam, dass mein Geldbeutel doch sehr weit aus meiner Tasche herausstünde. Ich war völlig irritiert - na und? Warum ist das problematisch? Hier in Paris wird in der Metro auf zwanzig verschiedenen Sprachen auf die Gefahr von Taschendieben hingewiesen. Es gilt, dass man die Menschen, die mal in Paris gelebt haben, daran erkennt, ob sie auf Chinesisch und Spanisch vor Taschendieben warnen können. Meine Handtasche verschließe ich inzwischen immer und greife sie zusätzlich am Riemen. Manchmal ertappe ich mich, wie ich panisch überprüfe, ob ich sie auch wirklich verschlossen habe.

Seit mir in Paris einmal selbst die Handtasche gestohlen wurde, bin ich vorsichtiger geworden. Ich saß eine Stunde auf einer Parkbank und unterhielt mich. Als ich aufstehen wollte, war die Tasche, die die ganze Zeit neben mir stand, verschwunden. Ohne Handy, Geld, Ausweis oder Schlüssel in Paris zu stehen, war schon eine Erfahrung der besonderen Art. Als ich bei der Polizei den Diebstahl meldete, wurde nicht mal nach einer Täterbeschreibung gefragt - dass ich die Tasche nie wieder sehen würde, stand außer Frage. Bei meiner Auflistung, was alles in der Tasche gewesen war, lachte die Polizistin: "Mon dieu, Sie hatten ja Ihr gesamtes Leben in ihrer Handtasche." Studentenausweise, Bankkarten, Personalausweis, Führerschein, Lieblingslippenstift, Handy und Adressbuch - all das musste neu beschafft werden.

Als ich mich panisch nach demjenigen umdrehe, der da an meiner Tasche zugange ist, blicke ich in das Gesicht des jungen Franzosen, den ich vor zwei Monaten abserviert hatte. Er ist mir aus der Uni gefolgt und versucht, mir anonym einen Abschiedsbrief in meine Handtasche zu schmuggeln. Ich frage mich seufzend, warum in der Metro eigentlich niemand vor diesen jungen gedichtschreibenden Franzosen warnt.

© SZ vom 06.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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