Viel Betrieb in der Stadtbibliothek:Harry Potter im Sechs-Punkte-System

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Die blinde Franziska Sgoff (rechts) zeigt Thomas Reichmann und Regina Hege, wie man mit der so genannten Braille-Schreibmaschine umgeht. (Foto: Marco Einfeldt)

Am "Tag der Begegnung" erfahren die Besucher, wie man mit einer Schreibmaschine für Blinde umgeht und was Bibel und Koran verbindet.

Von Tobias Weiskopf, Freising

Wie lesen und schreiben Blinde und Sehbehinderte denn eigentlich? Einblicken - besser gesagt: sich einfühlen - in eine Welt ohne Augenlicht konnten die Besucher in Franziska Sgoffs Workshop "Blind Work". Die 19-Jährige ist seit ihrer Geburt blind und war im Programm des inklusiven Kulturfestivals "Mitanand" eine der Akteurinnen am "Tag der Begegnung" in der Freisinger Stadtbibliothek.

Dazu hatte Franziska Sgoff eine spezielle Schreibmaschine für Blindenschrift mitgebracht. Das Besondere: Die Tastatur besteht lediglich aus sieben Tasten, wovon eine für das Leerzeichen steht und die anderen einer Nummer zwischen eins und sechs zugeordnet sind. Jede Nummer steht für einen Punkt der Blindenschrift, die Anfang des 19. Jahrhundert der Franzose Louis Braille erfunden hat. Die sechs Punkte sind in der Grundform wie die sechs eines Würfels angeordnet und bedeuten je nach Kombination einen anderen Buchstaben, eine Zahl oder ein Sonderzeichen. Wer mochte, konnte es selbst versuchen und mithilfe einer Tabelle seinen Namen oder eine kurze Botschaft schreiben. Das war nicht so einfach, wenn man sich vertippt hatte, war der Punkt bereits in das Papier gedrückt, man musste von vorne beginnen. Mit ein wenig Übung und Geduld ist es dann aber den meisten gelungen.

Die blinde Franziska Sgoff (rechts) zeigt Thomas Reichmann und Regina Hege, wie man mit der so genannten Braille-Schreibmaschine umgeht. (Foto: Marco Einfeldt)

Im Alltag greife sie eher auf den Computer zurück, der sie auch mit einer Vorlesefunktion unterstützte, erklärte Franziska Sgoff. Eine kleine Zusatztastatur, die sie an ihrem Laptop befestigt, übersetzt die Texte des Bildschirms in Windeseile in das Punktschriftsystems für Blinde, in dem die entsprechenden kleinen Punkte sich heben oder senken. Sie besitzt die gleichen sieben Tasten wie die Schreibmaschine. Zum Abschluss verblüffte Franziska Sgoff ihre Zuhörer, als sie zu einem dicken Buch griff und den Beginn von "Harry Potter und die Kammer des Schreckens" las. Dabei glitt sie mit mehreren Fingern gleichzeitig über die Punkte, über die Zeile, über die Seite und las fehlerfrei und flüssig vor. Das habe viel Übung gebraucht, gab Sgoff zu, aber sie lese am liebsten laut, um den Lesefluss zu üben. Na dann: "Auf Wiedersehen - äh hören." "Sehen ist schon okay", sagte Franziska Sgoff mit einem freundlichen Grinsen und verabschiedete sich.

Clown Lupino schenkt dem kleinen Philipp eine Luftballonfigur. (Foto: Marco Einfeldt)

Gemeinschaft und Begegnung spielten auch beim Schattentheater eine große Rolle, das die islamische Gemeinde gemeinsam mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirche aufführte. Zahlreiche Kinder lauschten gespannt den Geschichten von Abraham und Ibrahim. Genau genommen ist es ein und dieselbe Geschichte, nur in unterschiedlichen Fassungen - im Koran und in der Bibel. Die jungen Zuhörer tauchten tief in die Erzählung ein und schauten gespannt auf die große Leinwand, auf der das Geschehen mithilfe liebevoll ausgeschnittener Figuren und Symbole per Schattenspiel lebendig wurde.

Auch sonst war allerhand geboten. Während die Klinik-Clowns kleine Kinder bespaßten und der Sängerhort zum Mitsingen einlud, präsentierten Freisinger Gruppen und Vereine unterschiedliche Kampfkunst und gaben wertvolle Selbstverteidigungstipps. Wer es etwas ruhiger mochte, konnte sich im Treppenhaus im Häkeln versuchen und den Handlauf der Bibliothekstreppe mit Handarbeiten verschönern.

Wem der Magen knurrte, der hatte beim Verein "zusammen leben" die Gelegenheit, sich zu stärken und nebenbei etwas über das integrative Projekt "zusammenessen.de" zu erfahren. Engagierte Bürger können über die Internetplattform eine Einladung senden, die anschließend geprüft wird. Interessenten können sich auf eines der zahlreichen Angebote melden und Gast einer Aktion werden. Längst reichen die Offerten weit über gemeinsames Essen hinaus: Man kann auch Hobbys mit anderen teilen, etwa sportliche Aktivitäten oder kulturelle Unternehmungen. Eine Gruppe Freisinger Frauen hat das Projekt vor einiger Zeit in die Region geholt, um Menschen verschiedener Herkunft zusammen zu bringen und Geflüchteten die Integration zu erleichtern, erklärte eine der Initiatorinnen.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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