Prozess in Freising:Belastungszeugin verschwindet spurlos

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Es geht um einen besonders schweren Fall sexueller Nötigung. Doch zu Beginn der Verhandlung ist die wichtigste Zeugin, eine 16-Jährige, plötzlich weg.

Peter Becker

Die Zeugin, auf die alles ankommt im Prozess gegen einen 19-jährigen Jugendlichen aus Ansbach, ist bei Beginn der Verhandlung spurlos verschwunden. Was nicht verwundert, denn für ein 16-jähriges Mädchen ist die Aussicht, eventuell vor einer versammelten Schulklasse über ihr Sexualleben Auskunft geben zu müssen, sicher ein Alptraum.

Leere Stühle auf der Zeugenbank: Ein 16-jähriges Mädchen ist zu Beginn einer Verhandlung in Freising spurlos verschwunden. (Foto: dpa)

Obendrein mag sie sich von der Anwesenheit von Cousins und Freunden des Beschuldigten eingeschüchtert fühlen. Nachdem Vorsitzender Richter Christian Baier die anwesenden Zeugen vernommen hat, bricht er die Sitzung des Jugendschöffengerichts ab und setzt einen neuen Termin fest.

Der 19-Jährige muss sich laut Anklage wegen eines besonders schweren Falls der sexuellen Nötigung verantworten. Möglicherweise handelt es sich bei den Vorfällen vom Oktober des vergangenen Jahres sogar um eine Vergewaltigung. Der junge Mann, der bei seinen Cousins in Freising zu Besuch war, behauptet, die Initiative sei von dem Mädchen ausgegangen. "Sie wollte, dass wir ins Schlafzimmer der Eltern gehen", erklärt er.

Dass das Mädchen erst 16 Jahre alt sei, habe er nicht gewusst. Er habe sie für älter gehalten. "Sie hat mir die Hose ausgezogen und hat sich auf mich draufgesetzt", erzählt er. Als dann einer seiner Cousins ins Zimmer gekommen sei, habe er das Liebesspiel abgebrochen. Tage später habe er das Mädchen abends in der Freisinger Innenstadt wieder getroffen. Da habe sie ihn und auch einen Cousin erneut zu sexuellen Handlungen aufgefordert. Der Angeklagte vermutet, dass die 16-Jährige "Stress mit ihrer strengen Mutter bekommen hat und es deshalb zur Anzeige gekommen ist".

Die Version, die das Mädchen bei ihrer Vernehmung durch die Polizei gemacht hat, hört sich anders an. Demnach räumt die 16-Jährige ein, dass sie zunächst freiwillig mitgemacht habe. Als sie der Beschuldigte zum Geschlechtsverkehr drängte, habe sie das abgelehnt. Ihre Mutter sei streng gläubig und wolle nicht, dass sie vor der Ehe mit einem Mann schlafe. Er habe sie dann doch überredet. Sie habe aber Schmerzen gehabt und habe ihn gebeten aufzuhören, heißt es im Protokoll. Stattdessen soll der 19-Jährige ihr die Hände festgehalten und weitergemacht haben. Hinterher, hieß es im Protokoll, soll er das Mädchen als Schlampe bezeichnet haben. Es habe sich aufgeführt wie im Kindergarten.

Die Zeugin selbst war zwar mit ihrer Mutter zur Verhandlung gekommen. Als sie aber sah, dass eine Schulklasse vor dem Gerichtssaal stand, verließ sie wohl der Mut. Überdies muss wohl ein Wortwechsel zwischen ihr und dem Angeklagten stattgefunden haben. Das schloss Richter Christian Baier aus einer Mitteilung, die ihm eine Kollegin gemacht hatte. Der Verdacht liegt nahe, dass sich der Beschuldigte auch mit seinen Cousins angesprochen hat. Einen der Zeugen fragt der Richter, ob es bei einem späteren Treffen in der Innenstadt zu einem besonderen Ereignis gekommen sei. Dieser antwortet zunächst, er könne sich an nichts erinnern. Erst ein aufmunterndes Stichwort des Angeklagten schließt scheinbar die Gedächtnislücke.

Die Aussagen der Mutter legen nahe, dass diese mit der Erziehung ihrer Tochter erheblich überfordert ist. Die Frau schilderte, dass es Ärger gegeben habe, weil das Mädchen nach der neunten Klasse einfach nicht mehr zur Schule gehen wollte. Außerdem habe sie begonnen, Alkohol zu trinken. Nach dem Vorfall im vergangenen Oktober galt die 16-Jährige eine Woche lang als vermisst. Sie sei öfter verschwunden und habe bei Freunden übernachtet, ohne ihr Bescheid zu sagen, erzählt die Frau und fügt hinzu: "Meine Tochter macht einfach, was sie will."

Von dem Vorfall habe ihr das Mädchen zunächst nichts erzählt. "Ich habe aber als Mutter gespürt, dass sie etwas auf dem Herzen hat", berichtet die Frau. Es sei ihr wohl peinlich gewesen, den Vorfall zu erzählen. "Und sie hat auch befürchtet, dass sie wegen meiner altmodischen Einstellung Ärger mit mir bekommt." Zehn Minuten nach dem Gespräch mit ihrer Tochter habe sie dann die Polizei angerufen und Anzeige gegen den 19-Jährigen erstattet.

© SZ vom 24.06.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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