Neues aus Porto Alegre:Mandarinenschalen und Obdachlose

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Malena Günther ist als "Botschafterin Bayerns" in Brasilien. Die Probleme des Landes stimmen sie nachdenklich

Von Malena Günther, Freising

Nun im subtropischen Winter in Porto Alegre stechen einem die vielen Bergamotten in den Läden und auf den Bäumen ins Auge. Sie sind klein, leicht grünlich und schmecken saurer und saftiger als in Deutschland. Richtet man hingegen seinen Blick auf den grauen Gehsteig, fallen einem einige Haufen von weiß-orangen Schalen auf. Und lässt man seine Augen weiter am Boden, so entdeckt man häufig daneben die schmutzigen Füße eines Obdachlosen.

Schon vor ein paar Wochen, als ein Generalstreik gegen die Rentenform stattfand und ich die verlassenen Buskorridore entlang gelaufen bin, haben mich die Mandarinenschalen, nachdenklich gemacht und mir Porto Alegres beziehungsweise Brasiliens Probleme wieder ins Bewusstsein gebracht. Diese kann man auch als Gast in diesem Land nicht übersehen, sie sind aber mit den Privilegien in einer Mittelstandsfamilie leichter zu verdrängen. So betreffen mich zwar Änderungen des Schulsystems oder des Rentenalters wenig, aber die akuten Probleme nehme ich täglich im Alltag wahr.

Im Stadtzentrum zum Beispiel kommen alle zehn Meter Bettler auf einen zu und auf der Straße schieben Müllsammler beschwerlich ihre Wagen zum nächsten Container. Auch Kriminalität ist ein großes Thema in Porto Alegre, weswegen alle Häuser umzäunt und mit Wachpersonal ausgestattet sind.

Der Hälfte meiner Schulfreunde wurde schon das Handy geklaut und meinem Lehrer das Auto schon zum fünften Mal. Befestigte Häuser, sauberes Wasser, Strom - vieles, was in Deutschland selbstverständlich ist, ist hier nicht immer Standard.

Es gäbe noch mehr Negatives aufzulisten, aber der Aufruhr in den Medien um den Präsidenten Michel Temer bewegt mich dazu, ein differenziertes Bild von Brasilien zu zeigen. Denn trotz aller Probleme und Skandale existiert auch noch eine andere Seite. So gibt es eine Lebensmittelbank, die monatlich 40 000 Familien im Bundesstaat Rio Grande do Sul versorgt, oder Einkaufsketten, die alte Socken sammeln, um daraus Decken für den Winter zu nähen. Es finden vegane Biomärkte und Flohmärkte statt. Es gibt Autoren, die aus purer Leidenschaft dafür bezahlen, dass ihre Bücher publiziert werden. Darüber hinaus kann man seine Essensreste, inklusive Mandarinenschalen, zu privat organisierten Kompostieranlagen bringen. Und dann ist da noch der Lehrer, der selbst nach dem fünften Raubüberfall mit einem Lächeln und Ersatzsonnenbrille in den Unterricht kommt.

Brasilien hat wirtschaftlich, intellektuell, kulturell so viel zu bieten und die Proteste der vergangenen Tage zeigen, dass die Mehrheit Mut und Hoffnung noch nicht aufgegeben hat und an ihr Potenzial glaubt.

© SZ vom 27.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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