Im Kardinal-Döpfner-Haus:Durch die Augen eines verstörten Mädchens

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Journalistin Marlene Groihofer liest auf dem Domberg aus Erinnerungen der Holocaust-Überlebenden Gertrude Passberger

Von Katharina Aurich, Freising

Ein beinahe schicksalhafter Zufall hat die österreichische Journalistin Marlene Groihofer mit der Holocaust-Überlebenden Gertrude Pressburger in Wien zusammengeführt. Aus dieser Begegnung entstand bei 14 Treffen, während derer die 90-Jährige zum ersten Mal ihre Erinnerungen an ihre Jugend und die Jahre im Konzentrationslager Auschwitz erzählte, das bewegende und mutige Buch "Gelebt, erlebt, überlebt". In Österreich wurde es zu einem Bestseller.

Marlene Groihofer hat diese Biografie kürzlich in der Reihe "Sonntags am Domberg" im Kardinal-Döpfner-Haus vorgestellt. Die Journalistin las daraus und zeigte einen kurzen Videofilm, in dem Gertrude Pressburger vor rechtspopulistischer Hetze warnt. Mit diesem Videoclip hat sich die alte Dame im Jahr 2016 in den österreichischen Präsidentschaftswahlkampf eingemischt. Manche sagen, sie habe ihn damit sogar entscheidend beeinflusst, betonte Marlene Groihofer einleitend. Die Erinnerungen von Gertrude Pressburger seien ein Vermächtnis. Ihre Familie, Vater, Mutter und die beiden jüngeren Brüder, die alle in Auschwitz ermordet wurden, hätten keine Gräber, aber dafür gebe es jetzt dieses Buch. Sie wolle der nachkommenden Generation etwas mitgeben, schilderte Groihofer das Anliegen ihrer Interviewpartnerin, die davor jahrzehntelang geschwiegen hatte.

Selbst Pressburgers Ehemann, den sie nach dem Krieg heiratete und mit dem sie eine Tochter hat, habe nichts von ihrer Vergangenheit gewusst. Aber nun sei Pressburger froh, dass sie erzählt und sich erinnert habe, einfacher werde die Erinnerung dadurch aber nicht, berichtete Groihofer. Was aber haben diese unvorstellbar grausamen Erinnerungen, diese sensiblen und intimen Schilderungen mit der jungen Autorin, Jahrgang 1989, gemacht? "Ich bin Teil der Geschichte der Frau Pressburger geworden und weiß jetzt sehr deutlich, dass Frieden nicht selbstverständlich ist", bekennt sie. Die Erinnerungen beginnen mit Gertrude Pressburgers unbeschwerter Kindheit als Schwester zweier kleiner Brüder im Wien der 1930-er Jahre.

Als Sechsjährige sah sie zum ersten Mal zwei erschossene Menschen auf der Straße liegen, im Alter von zehn Jahren spürte sie die Angst der Eltern. Als ihr Vater von der Gestapo misshandelt und gefoltert wurde, floh die Familie 1938 auf den Balkan. Nach Jahren der Flucht, gerade waren sie am Gardasee untergekommen, wurden sie 1944 nach Auschwitz deportiert. Eine Geschichte, wie sie millionenfach in Deutschland und Europa während der Naziherrschaft geschah. Das Besondere an Marlene Groihofers Buch ist die einfühlsame Erzählweise, die bildhaften, detaillierten Erinnerungen eines jungen Mädchens. Denn Pressburger habe die Szenen, ihre Gefühle beschrieben, als sei es gestern gewesen, erinnerte sich ihre Biografin. Auch beim Zuhören meinte man, das junge Mädchen vor sich zu sehen, wie es nach der Ankunft in Auschwitz an der berüchtigten Rampe von seiner Familie getrennt wurde und im Schock erstarrte, nicht mehr fror oder Hunger verspürte.

Nach dem Krieg kehrte Gertrude Pressburger nach Wien zurück, feindlich empfand sie ihre Heimat, bis heute meidet sie die Straßen ihrer Kindheit. 39 ihrer Verwandten sind ermordet worden, aber Gertrude Pressburger sei nicht verbittert, sondern sie wolle sich nur nichts mehr gefallen lassen und gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit eintreten, beschrieb Marlene Groihofer ihren zwanzig, fast ausschließlich weiblichen Zuhörerinnen auf dem Domberg. Das Buch "Gelebt, erlebt, überlebt" von Gertrude Pressburger und Marlene Groihofer ist im Paul Zsolnay Verlag im Januar 2018 in dritter Auflage erschienen.

© SZ vom 27.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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