Freisinger Köpfe:Verloren im modernen Leben

Lesezeit: 3 min

Kristina Kluge-Raschke ist neugierig und sie mag Menschen. Für ihren Beruf ist das von Vorteil. (Foto: Marco Einfeldt)

Zur ihr kommen Menschen, die seelisch so belastet sind, dass sie nicht mehr weiter wissen: Kristina Kluge-Raschke ist die Leiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes der Caritas Freising. Immer öfter hilft sie auch Flüchtlingen.

Interview von Gudrun Regelein, Freising

Das Gemälde zeigt ein aufgewühltes, wildes Meer in düsteren Farben. Gemalt hat es ein Teilnehmer der Malgruppe der Tagesstätte Courage. "Für mich zeigt das Bild den inneren Aufruhr des Malers, es ist aber auch sehr kraftvoll", sagt Kristina Kluge-Raschke, die Leiterin des sozialpsychiatrischen Dienst der Caritas Freising. Im Gespräch mit der SZ Freising erzählt sie von den Problemen ihrer Klienten - und wie sie es schafft, die notwendige Distanz zu ihrem oft belastenden Alltag zu schaffen.

SZ: Frau Kluge-Raschke, wo zieht man die Grenze zwischen Normalität und psychischer Störung? Ist das immer möglich?

Kristina Kluge-Raschke: Psychologen würden vermutlich sagen, dass sie bei jedem Menschen etwas finden, das auffällig ist. Ich würde die Grenze dann ziehen, wenn jemand selber damit einen Leidensdruck oder sein Umfeld Schwierigkeiten hat und es deshalb zu Spannungen kommt. Man muss das aber immer im Kontext sehen: Es gibt beispielsweise Arbeitsbereiche, wo ein sehr extrovertiertes Verhalten völlig normal ist, in einem anderen Bereich aber würde es als auffällig gelten.

Aber eine Diagnose ist sehr schwierig?

Eine psychische Störung ist sicherlich schwieriger als eine Grippe zu diagnostizieren. Wir hier treffen aber auch keine Diagnose. Zu uns kommen Menschen, die Depressionen haben, die sich nicht stabil fühlen, die Schlafstörungen, Ängste haben. Die kommen aus dem Empfinden, dass etwas nicht stimmt, zu uns. Andere dagegen haben schon eine Diagnose und eine längere Geschichte.

Wie können Sie helfen?

Unsere Eingangstür ist zunächst einmal die Beratung. Daneben gibt es unsere Tagesstätte Courage, die eine sinnvolle Tagesstruktur anbietet. Dann haben wir das ambulant begleitete Wohnen: Teilweise leben die Klienten in ihrer eigenen Wohnung, teilweise in einer therapeutischen Wohngemeinschaft. Und schließlich bieten wir die psychosoziale Fachberatung in Zusammenarbeit mit dem Jobcenter an.

Für wen ist diese gedacht?

Wir begleiten hier sehr intensiv Menschen, die von Arbeitslosigkeit und den daraus resultierenden, schwierigen Lebensumständen betroffen sind. Ziel ist, dass sie sich wieder stabilisieren, dass sie lernen, wo sie sich punktuell Hilfe holen können. Dieses Angebot wird vom Jobcenter finanziert - unsere anderen Angebote übrigens zum großen Teil vom Bezirk, zehn bis 20 Prozent kommen als Zuschuss von der Caritas.

Gibt es den klassischen Klienten?

Nein, den haben wir nicht. Die meisten Klienten sind zwar im mittleren Alter, aber auch die Anzahl der Jungen steigt, zwar moderat, aber kontinuierlich. Und wir haben viele Senioren in unserer gerontopsychiatrischen Fachberatung, die vor allem wegen der Themen Depressionen und Demenz kommen.

Ihre Klienten kommen mit ganz verschiedenen Problemen zu Ihnen?

Ja, wir sprechen von multikomplexen Problemfällen. Im Vergleich zu früher sind die Anliegen vielschichtiger geworden. Heute verwebt sich eine psychische Beeinträchtigung zumeist mit anderen existenziellen Themen, beispielsweise mit finanziellen Problemen, mit Wohnungsnot oder Beziehungsschwierigkeiten. Die Menschen, die vor uns sitzen, sind alle sehr belastet und wissen erst mal nicht weiter. Das kann ein Stück weit mit unserem modernen Leben zusammenhängen. Eventuell spielt auch eine Rolle, dass die durchschnittliche Verweildauer in Kliniken kürzer und die Wartezeit für einen Facharzttermin oder einen Psychotherapietermin sehr lange ist - in Freising unter Umständen mehrere Monate lang.

Sind Sie auch Anlaufstelle für traumatisierte Asylbewerber?

Wir unterstützen Flüchtlinge, die unter Traumafolgestörungen oder psychischen Erkrankungen leiden. Wir können zwar eine Beratung in englisch und französisch anbieten, aber dennoch ist die Sprachbarriere ein großes Problem. Es ist eine Herausforderung, sich gegenseitig zu verstehen. Im vergangenen Jahr kamen etwa 25 Flüchtlinge zu uns, bei insgesamt etwa 800 Klienten im Jahr ist das aber nicht viel.

800 hört sich nach sehr viel an - wächst die Zahl der Hilfesuchenden bei Ihnen?

Die Zahlen sind stagnierend bis leicht steigend. Vor etwa fünf Jahren sind sie enorm nach oben geschnellt, seitdem haben sie sich auf hohem Niveau stabilisiert.

Aber diese Fälle werden immer komplizierter?

Ich denke, dass psychische Erkrankungen in erster Linie mehr wahrgenommen und häufiger als früher diagnostiziert werden. Das liegt sicher auch an einer gewissen Entstigmatisierung. Betroffene sind eher bereit, darüber zu reden, sich Hilfe zu holen oder in eine Klinik zu gehen.

Und wie ist die Akzeptanz in der Gesellschaft?

Sehr unterschiedlich. Es gibt Modediagnosen, wie Burn-out. Leider wird der Begriff manchmal als Synonym dafür verwendet, wie viel jemand arbeitet - nach dem Motto: "Schaut, wie fleißig ich bin." Aber eigentlich ist Burn-out eine Belastungsdepression und sollte ernst genommen werden. Ich denke, dass zwar in Teilen der Gesellschaft mittlerweile eine psychische Störung akzeptiert wird und dass darüber gesprochen wird. Aber dann haben wir auch Teile, denen der Umgang sehr schwer fällt, wo eine psychische Erkrankung keinen Platz hat, die das Ideal haben, fit, leistungsfähig und schön zu sein.

Sie hören von vielen Schicksalen. Wie schafft man, sich zu distanzieren?

Wir im Team haben uns sehr mit Achtsamkeit beschäftigt. Sich im Hier und Jetzt zu verankern, wahrzunehmen, was gerade geschieht. Das ist eine Haltung, die einem als Berater hilft - und zugleich eine Methode für Klienten, mit Belastung umzugehen.

Und wie gehen Sie persönlich damit um?

Eine große Kraftquelle ist für mich Meditation und Qi Gong. Das ist meine zweite Leidenschaft. Ich habe auch eine Ausbildung als Qi Gong-Lehrerin und gebe Achtsamkeits-Kurse für unsere Klienten und für Mitarbeiter im sozialen Bereich.

© SZ vom 14.03.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: