Eine Austauschschülerin erzählt:"Going to Paris is forbidden"

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Katharina Horban hat die Terrornacht in Frankreich erlebt

Von Katharina Horban, Dunkerque

Das Fußballspiel Frankreich gegen Deutschland am Freitagabend ist in der Schule großes Thema. Meine Mitschüler schätzen die Chancen für ihre Mannschaft nicht sehr hoch ein. Beim Abendessen mit meiner Gastfamilie lachen wir und spekulieren, wie das Spiel ausgeht. Mein Gastvater droht, dass ich vor der Tür schlafen muss, wenn die Deutschen gewinnen. Kurz nach dem Anpfiff kommt eine Nachricht meiner Mutter, in Deutschland schaut auch meine Familie das Spiel und sie denken an mich. Als sich die erste Halbzeit dem Ende zuneigt, hört man zwei laute Geräusche: "Bumm, bumm." Was war das? Es scheint nah gewesen zu sein. Doch das Spiel nimmt seinen Lauf und in der letzten Minute vor der Pause fällt das 1:0 für die Franzosen. Der Jubel in meiner Gastfamilie ist groß. Alles normal.

Um kurz nach 22 Uhr, die zweite Halbzeit hat gerade angefangen, vibriert mein Smartphone: Eilmeldung von "Le Monde" - Anschläge in Paris, an mehreren Orten in der Stadt habe es Angriffe gegeben. Mindestens 18 Tote. Ich sage meinem Gastvater Bescheid, sofort schalten wir um und was ich sehe, kann man nicht beschreiben: Chaos auf den Straßen, überall Krankenwagen. Stark bewaffnete Polizisten bewachen Straßenzüge, haben sich hinter Autos verschanzt. Übertragungswagen der Fernsehsender, davor Journalisten mit schusssicheren Westen. Zwei Polizisten tragen einen Schwerverletzten in einen Krankenwagen. Ein Café mit zerschossenen Fenstern, Tote, mit Leichentüchern bedeckt.

Vor dem Stade de France gab es mehrere Explosionen, berichtet ein Journalist. Das waren also die Geräusche von vorhin. Angeblich zwei Männer mit Sprengstoffgürteln, Selbstmordattentäter. "Stell dir vor, wenn die es ins Stadion geschafft hätten! Da sind 80 000 Menschen drin!", sagt mein Gastvater zutiefst erschrocken.

Nichts ist mehr normal, trotzdem wird das Fußballspiel nicht abgebrochen. Irgendwann fällt das zweite Tor für Frankreich, was vollkommen egal ist. Die Politiker sind in Sicherheit gebracht, das Spielfeld wird für die Menschen geöffnet. Sie strömen auf den Rasen, das Stadion verlassen dürfen sie nicht. "Zu einem Freundschaftsspiel geht man mit seinen Kindern, mit seiner Familie. Niemand hätte gedacht, das so etwas Schreckliches passieren kann!", sagt ein Mann. Dann wird bekannt, dass es im Theater "Le Bataclan" Schießereien gab und die Täter dutzende Geiseln genommen haben. Die Zahl der Toten wird ständig nach oben korrigiert.

Nachrichten von meinem Gastbruder, er ist für seinen Austauschjahr mit Rotary in Malaysia. Auch dort wird live übertragen aus Paris, gerade hat er von den Anschlägen erfahren. In der Facebook-Gruppe des Rotary-Distriktes schreibt die Leiterin, dass jeder seinem Rotary Sponsor Club und seiner Familie schreiben soll, dass bei ihm alles Ordnung ist. "Going to Paris is of course forbidden", sagt sie. Im Dezember gäbe es für die Austauschschüler ein Wochenende in Paris, aber ob das nach den Anschlägen stattfindet, steht in den Sternen.

Samstagvormittag, das Leben geht weiter. Irgendwie konnte ich einschlafen, als ich aufwache und auf mein Handy schaue, sind es über 100 Tote. Vor einem Tag war alles noch normal. Dann war der Terror da, in Paris, in Frankreich, in Europa. Ich gehe zur Musikschule, dort habe ich Querflötenunterricht. Die Straßen sind leer. Die Lehrerin ist mit den Nerven am Ende, sie hat gerötete Augen. Ich frage, ob sie Familie in Paris hat. Sie setzt sich hin, nimmt einen Schluck von ihrem Kaffee und dann erzählt sie: Ihr älterer Bruder wohnt mit seiner Familie in Paris. Seine Frau, vor kurzem hat sie ein Baby bekommen, ist noch im Mutterschutz. Sie ist Polizistin und muss sofort in den Dienst, als die Anschläge bekannt werden. Der Bruder hatte Karten für das Konzert in "Le Bataclan", das ist der Ort, an dem über 80 Menschen getötet und unzählige verletzt wurden. Sein zweijähriger Sohn ist krank, deshalb bleibt er zu Hause. Das rettete ihm vielleicht das Leben. "Ich habe ihn erst heute morgen erreicht! Ich dachte, mein Bruder ist auf diesem Konzert", sagt sie entsetzt.

Dann ist die Stunde zu Ende, die nächste Schülerin kommt. Sie ist etwa sieben Jahre alt, ihre Mutter ist dabei. Die Frauen schauen sich an und ihr Blick sagt alles. "Jetzt ist es bei uns in Frankreich schon so wie in den USA. Man nimmt sich eine Waffe und erschießt wahllos unschuldige Leute. Dort sind es vor allem Amokläufe, hier sind es Terroristen", sagt die Mutter.

Nach dem Mittagessen holt mich mein Counsellor ab. Jeder Austauschschüler hat einen Counsellor, gibt es Fragen oder Probleme, ist er eine Ansprechperson. Mit ihm und seiner Familie mache ich einen Ausflug in das Aquarium von Boulogne-sur-Mer. "Meine Frau hat gezögert, ob es eine gute Idee ist, wenn wir am Tag nach den Anschlägen fahren. Aber ich habe gesagt, wir dürfen uns nicht zu Hause verkriechen. Das Leben wird weitergehen, auch wenn es nach dieser schrecklichen Nacht für Frankreich sehr schwer werden wird."

© SZ vom 16.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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