Auf der Tür zum Klassenzimmer klebt ein lachender Smiley, doch sobald der Lehrer die Klinke drückt und die Kamera seinem Blick durch die Bankreihen folgt, ist da gar nichts mehr zum Lachen. Traurigkeit steigt auf. Denn dort, ganz hinten in der letzten Reihe, hat vor einem Jahr noch er gesessen: Can Leyla, fußballbegeisterter Schüler der Mittelschule Unterhaching. Und einer von neun Menschen, die beim Amoklauf am 22. Juli 2016 am OEZ erschossen wurden.
Über Tat und Täter erfährt man nichts in den 50 Minuten, die "Unvergessen" dauert, der neue Dokumentarfilm von "Moviejam". Hinter der Filmproduktionsfirma stehen sieben Gymnasiasten aus Taufkirchen und Unterhaching, zwischen 15 und 18 Jahren alt. "Wir wollten dem Täter keinen Raum geben", sagt Alexander Spöri, der die Aufgabe des Produzenten übernimmt. "Unvergessen" ist ihr dritter Film, davor haben sie sich bereits mit den Olympischen Spielen von 1972 und dem Schulsystem auseinandergesetzt.
Mit dem Film wollen sie der Opfer gedenken: Die Münchner sollen sich erinnern an jene Menschen, die ja auch stolz darauf gewesen seien auf ihre Stadt, wie Spöri betont. Denn so herzlos es auch klingen mag: Ein Jahr nach der Tat weiß so mancher zwar vielleicht noch, dass am 22. Juli 2016 neun Menschen ums Leben kamen. Doch ihre Namen, die hat die Zeit aus dem Gedächtnis gekratzt. Also haben die jungen Filmemacher Cans Vater, der im Film nur im Profil zu sehen ist, und Margareta Zabergja, die Schwester von Dijamant Zabergja, kurz: "Dimo", in den vergangenen zehn Monaten immer wieder erzählen lassen. Denn nur zum hundertsten Mal den Ablauf des Abends zu skizzieren, das war ihnen zu wenig. Und so sitzt man also im Keller eines Taufkirchner Einfamilienhauses, im Studio von Moviejam, und wird beinahe weggespült von den Emotionen, die einem aus dem Bildschirm entgegen rollen. Kein zwanghafter Tränendrüsenfilm, aber einer, der tief berührt, besonders dann, wenn die Angehörigen davon erzählen, wie sie den Abend erlebt haben. Die Suche nach dem Bruder, dem Sohn, die Stunden, in denen sie noch hoffen. Bis dann, im Fall von Cans Vater, morgens um fünf Uhr die Nachricht vom Tode seines Sohnes ereilt. "Der Vater saß die ganze Nacht alleine in der Olympiahalle", sagt Spöri. "Der hatte keinen Arzt, keinen Therapeuten." Man sieht Margareta Zabergja in Nahaufnahme, die Kamera geht ganz nah ran an den Schmerz. Für Kameramann Leon Golz war dieses Interview ein besonders bewegender Moment der Dreharbeiten. Auf die Arbeit als solche könne man sich natürlich vorbereiten, sagt der Zehntklässler: Zwei Kameras auf Stativen, eine auf der Schulter, die für den leicht verwackelten Effekt der Aufnahme sorgt. Damit der Zuschauer auch die Unruhe der Schwester spüre.
Das Technische ist das eine. Das andere aber ist die emotionale Belastung, eine Herausforderung. Allein Leute zu finden, die vor der Kamera reden wollten, überhaupt reden konnten über den Verlust. Und Spöri und seine Kollegen sind Teenager, sie gehen noch zur Schule. Wo packt man die Geschichte hin von jemandem, der einen geliebten Menschen auf die schlimmste Weise verloren hat? Alexander Spöri sagt, genau solche Vorbehalte habe es anfangs auch gegeben. Natürlich sei es belastend, gar keine Frage, und besonders das erste Gespräch mit Margareta Zabergja, im Oktober 2016, sei ihm persönlich sehr nahe gegangen. "Aber genau dieses Gespräch hat uns dann motiviert, den Film zu machen." Und mit der Zeit lerne man natürlich, "Distanz" zu gewinnen, sagt Luca Zug, der die Regie verantwortet. Gewissermaßen seien sie auch erwachsen geworden durch das Projekt. Ihr Alter sieht Zug eher als Vorteil. Denn so hätten sie sich besser in die Opfer hineinversetzen können. "Wir sind nah dran an ihren Träumen und Wünschen."
Und genau darum ging es den jungen Filmemachern ja. Die Opfer möglichst greifbar werden zu lassen für den Zuschauer. Dafür stellen sie sogar Szenen aus deren Leben mit Schauspielern nach. Can in einer trubeligen Mathestunde, Dimo mit seiner Schwester und seiner Nichte auf dem Spielplatz.
Dass die Annäherung keine leichte werden würde, war ihnen bewusst. Doch steht ein Film nicht im Gegensatz zur Trauerbewältigung, bei der es ja auch darum geht, loszulassen? Die Filmemacher haben andere Erfahrungen gemacht. Die Angehörigen wollten die Ereignisse vergessen, sagt Spöri, "die Erinnerung an den Menschen aber wollen sie durchaus behalten". Cans Vater etwa besäße kaum Fotos von seinem Sohn. Ein Freund von Can schickte den Filmemachern schließlich ein Video, das er fünf Stunden vor dessen Tod aufgenommen hatte. Drei Jungs tanzen auf dem Schulhof. Der im Hintergrund mit dem weißen Pulli, erklärt Spöri, das sei Can Leyla. So war er wohl: Keiner für die erste Reihe, aber mit einem Lächeln auf den Lippen. Er wurde 14 Jahre alt.
Am 29. Juli um 11.30 Uhr läuft "Unvergessen" einmalig im Mathäser Filmpalast, am 31. Juli zeigt das Kultur- und Bürgerhaus Pelkovenschlössl in Moosach den Film. Karten über 089/66562005, weitere Informationen unter www.moviejam.de