Fern der Heimat:Gemütlicher als Tokio

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Für Japaner, die nach München kommen, ist die Stadt erst einmal eine fremde Welt - doch obgleich die kulturellen Unterschiede immens sind, fühlen sich die meisten hier wohl

Von Tanja Schwarzenbach

Thoshio Kobatake, Inhaber des japanischen Restaurants "Toshi", muss kräftig lachen, als er auf die Frage antwortet, was er an seinen freien Sonntagen so unternehme: "Ich fahre öfter mal nach Garmisch." Und auch Mari Watanabe-Sasaki, die gerade hinter dem Tresen des japanischen Feinkostmarkts "Mikado" steht, in dem sie zwei Mal in der Woche arbeitet, lacht, als sie erzählt, dass sie kürzlich zum ersten Mal auf der Zugspitze war.

Die Heiterkeit hat mehrere Facetten. Auch die, dass es nicht gerade zum Selbstbild eines Japaners gehört, sich am Wochenende einen Rucksack anzuschnallen und damit schwitzend einen Berg hinaufzusteigen. Passiert es doch, ist das gewissermaßen die Kapitulation eines Großstädters vor der bayerischen Naturidylle. Denn die meisten der 4300 Japaner, die in München leben, sind in Städten wie Tokio aufgewachsen, das knapp 10 Millionen Einwohner hat, oder stammen aus Osaka mit 2,6 Millionen Einwohnern. In Tokio, wo die Geschäfte 24 Stunden sieben Tage die Woche geöffnet haben, würden die Menschen in ihrer knappen Freizeit einkaufen gehen oder kulturelle Veranstaltungen besuchen, sagt Yoshio Takahashi, der als Linguistik-Lektor am Japan-Zentrum der LMU arbeitet und seit zwölf Jahren in München lebt. Nicht aber in die Natur hinausfahren. Sie liegt ja auch nicht so nahe wie die Alpen an München.

München hat gleich nach Düsseldorf die zweitgrößte japanische Gemeinde in Deutschland. In Düsseldorf leben mehr als 7000 Japaner, das aber bei einer Einwohnerzahl von gerade mal 600 000. Generalkonsul Hidenao Yanagi erklärt bei einer Tasse grünem Tee im japanischen Generalkonsulat am Karl-Scharnagl-Ring, dass das Leben der Japaner in der nordrhein-westfälischen Stadt komprimierter stattfinde, während es in München verstreuter sei. In Düsseldorf gebe es ein japanisches Viertel und einen Tempel. In München ist überall ein bisschen was: die japanische Samstagsschule in der Nähe des Gärtnerplatzes, ein Japan-Laden in Schwabing, eine japanische Konditorei in Neuhausen, Kampfsport-Dojos in verschiedenen Vierteln, Sushi-Restaurants und japanische Lokale über die ganze Stadt verteilt - wobei Thoshio Kobatake einwendet, nur etwa zehn davon seien authentisch japanisch.

Foto: oh (Foto: N/A)

In München gibt es also nicht den einen Straßenzug, in dem sich die Japaner ein Stück Heimat bewahren. Welcher Ort ist für sie dann am japanischsten in der Stadt? Yoshio Takahashi sagt, sein Arbeitsplatz im Japan-Zentrum. Mari Watanabe-Sasaki, die eigentlich Papierkünstlerin ist, fühlt sich in dem japanischen Supermarkt, in dem sie arbeitet, am ehesten wie daheim - umgeben von großen Reisbeuteln, Takuan (eingelegtem Rettich), Umeboshi (gesalzenen und eingelegten Pflaumen), Misopaste und Tofu. Und Shinsuke Toda, stellvertretender Generalkonsul in München, meint, für ihn sei es zu Hause bei seiner Familie und seinen Kindern am japanischsten - dort sprächen sie auch alle Japanisch.

Interessanterweise wohnen aber viele Japaner im Arabellapark. Amüsiert stimmt Thoshio Kobatake, der auf einem Hochstuhl seines Restaurants sitzt und in dessen Küche schon mal ein 60-Kilo-Thunfisch zerlegt wird, zu, dass das vermutlich daran liege, dass sich die Japaner dort, mit all den Hochhäusern, am wohlsten fühlten - fast wie in Tokio. Wahrscheinlicher ist, dass sie dort wohnen, weil einige der 159 japanischen Unternehmen, die einen Firmensitz in München haben, im Norden ansässig sind - wie zum Beispiel Fujitsu Technology in den unübersehbaren Bürotürmen. 25 japanische Mitarbeiter beschäftigt das Computerunternehmen hier. Angestellte japanischer Firmen bleiben oft nur für einige Jahre in der Stadt und haben wenig Kontakt zu Münchnern, allein schon, weil das oft an Sprachbarrieren scheitert. Andere Japaner aber kommen, um zu bleiben, oder bleiben, obwohl sie andere Pläne hatten. Und die, sagt Matthias Müssig, der einen Manga-Laden in Schwabing betreibt, würden sich bemühen, Deutsch zu lernen und durchaus Freundschaften mit Münchnern schließen. Wie seine Frau Mari, die vor 14 Jahren nach München kam und dann der Liebe wegen blieb.

Die Liebe oder Liebschaften, wie die Münchner Historikerin und Japanologin Andrea Hirner sie nennt, aber auch die Freundschaften spielten eine große Rolle für die Beziehungen zwischen Japan und Bayern. Als 1868 die Meiji-Ära begann, durften die Japaner endlich ins Ausland reisen, auch nach Deutschland. Und da sich das japanische Medizinstudium sehr an dem deutschen orientierte, verschlug es auch einige japanische Medizinstudenten nach München, wie etwa Mori Ōgai, der bei Max von Pettenkofer Hygiene studierte und später Goethes Faust ins Japanische übersetzte. Wie Andrea Hirner zu erzählen weiß, betrank sich Ōgai einst in Andechs und lief mit einem Leiterwagen betrunken und laut singend nach München zurück. Andere japanische Studenten seien gerne mal in Schwabing "versackt". Und natürlich blieben auch Annäherungen nicht aus. "Die Studenten bewohnten meist Privatzimmer, da kam es auch zu Liebeleien mit bayerischen Mädchen", sagt Hirner. Für die jungen Frauen damals war das ein sozialer Aufstieg - sie gingen mit nach Tokio und lebten dort als angesehene Ehefrauen japanischer Professoren.

Bestimmt kam es damals schon zu kleinen Missverständnissen im Zusammenleben aufgrund kultureller Unterschiede. Wenn er nach Japan reise, erzählt Matthias Müssig, habe er das Gefühl, in einer völlig anderen Welt angekommen zu sein. Und umgekehrt seien für die Japaner, die in München leben, schon Kleinigkeiten im Alltag verwunderlich und schwierig. "Zum Beispiel, wenn ein Handwerker kommt. In Japan zieht man die Schuhe draußen aus. Wenn meine Frau einen Handwerker bittet, die Schuhe abzulegen, sagt der aber: Nein, die Sicherheitsschuhe muss ich tragen, wegen der Versicherung." Oder Mari Watanabe-Sasaki: Sie war kürzlich bei einer Freundin zu Besuch und bekam ein schlichtes Abendessen serviert. "In Japan essen wir abends aber viele Kleinigkeiten." Und der japanische Generalkonsul stört sich an der S-Bahn: "Es wäre schön, wenn die S-Bahn regelmäßig fahren würde", sagt er in japanischer Zurückhaltung - zwei Mal. Die Japaner in München seien sehr oft mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs und darauf angewiesen, vor allem an den Werktagen. Im riesigen Tokio, fügt sein Stellvertreter erklärend hinzu, benutze so gut wie niemand Autos.

Größere Probleme aber, meint Hidenao Yanagi, hätten die Japaner hier nicht. Mit vielem kann man sich ja arrangieren. Yoshio Takahashi zum Beispiel, der die Natur nie so richtig leiden mochte, mag sie lieber, seit er in Bayern lebt. Trotz oder gerade wegen dieser Postkartenlandschaft und der vielen Zeit, die die Münchner dort verbringen, fühlen sich die Japaner wohl. "Es ist nicht so stressig hier", sagt der Linguistik-Dozent. Die Japaner, meint der Generalkonsul, könnten in München einfach gemütlicher leben als in Tokio.

© SZ vom 17.07.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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