Fachleute schlagen Alarm:"Wir brauchen eine armutssichere Rente"

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Karin Majewski, Geschäftsführerin des Paritätischen im Bezirksverband Oberbayern. (Foto: privat)

Karin Majewski, Geschäftsführerin des Paritätischen im Bezirksverband Oberbayern, kritisiert, dass viele Menschen unverschuldet verarmen

Interview Von Thomas Anlauf, München

Der aktuelle Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigt, dass fast drei Viertel der ab 25-jährigen Armen ein mittleres oder sogar hohes Qualifikationsniveau aufweisen. Oftmals rutschen auch junge Menschen in München durch eine plötzliche schwere Krankheit in die Armutsfalle. Karin Majewski, Geschäftsführerin des Paritätischen im Bezirksverband Oberbayern, kritisiert, dass viele Menschen unverschuldet verarmen und oft nicht mehr in ein normales selbstbestimmtes Leben zurückfinden können.

SZ: Frau Majewski, eine langwierige Krankheit kann jeden treffen. Manchmal reicht ein schwerer Bandscheibenvorfall, um so lange krank zu sein, dass der Arbeitgeber nicht mehr zahlt und das Krankengeld nicht zum Leben reicht. Ist das ein unabwendbares Schicksal in Deutschland?

Karin Majewski: Das ist tatsächlich oft der Fall. Alles Geld, das wir für den Krankheitsfall vorher angespart haben, müssen wir - soweit wir auf Grundsicherung angewiesen sind - zunächst einsetzen. Die Folge ist: Wenn ich erst einmal arm bin, bleibe ich unten, erst recht, wenn ich nicht mehr gesund werde und nicht arbeiten kann.

Was ist denn Ihre Forderung an die Politik, um diese Situation erst gar nicht entstehen zu lassen?

Am wichtigsten wäre ein höherer Mindestlohn und bessere Gehälter. Denn kommt man heute von der Lohnfortzahlung ins Krankengeld, bekommen Sie nur noch bis zu 70 Prozent ihres Gehalts. Da muss man schon gut verdient haben, um sich das leisten zu können. Wenn man arbeitslos wird, bekommt man heute nur noch ein Jahr Arbeitslosengeld I. Im Jahr darauf rutscht man ins Arbeitslosengeld II, das sogenannte Hartz IV. Hier müssen die Menschen ihr gesamtes Vermögen einsetzen und haben so immer weniger die Chance, nach langer Krankheit wieder Fuß zu fassen.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist eine große Organisation. Wie können Sie Einfluss nehmen auf solche Probleme?

Der Paritätische Gesamtverband gibt ja regelmäßig einen Armutsbericht heraus. Vor ein paar Tagen kam aktuell der Armutsbericht 2018 heraus. Wir versuchen, politisch Einfluss zu nehmen. Eine unserer Forderungen ist es, dass wir eine armutssichere Rente brauchen. Wir haben doch alle Zahlen vorliegen, aber von der Politik wird nicht gegengesteuert. Die Reichen werden immer reicher, gleichzeitig gibt es immer mehr Arme.

Krankheitsbedingte Armut trifft oft Jüngere, die nicht mehr arbeiten können. Was können die tun, wenn sie erkranken?

Sie sollten sich ganz schnell Beratung einholen, ob beim Paritätischen, anderen Wohlfahrtsverbänden, dem VdK oder dem Sozialreferat. Es ist eine Schande für unsere Gesellschaft, dass sich viele Menschen schämen, wenn sie Hilfe brauchen. Da schwingt bei den Betroffenen ganz oft im Kopf mit, dass Armut selbst verschuldet sei. Das ist natürlich eine Lüge. Wir bräuchten vor allem zwei Dinge: ein Rentensystem, das vor Armut im Alter schützt, und eine Grundsicherung, die wirklich vor Armut schützt. Natürlich bräuchten wir im Vorfeld des Sozialsystems auch bessere Löhne. Es heißt doch immer, wir haben ein Leistungssystem: Wer viel leistet, verdient auch viel. Aber die Leistung von zum Beispiel Krankenschwestern und Erzieherinnen werden keineswegs leistungsgerecht entlohnt. Viele dieser Frauen steuern direkt in die Altersarmut. Und München und vor allem die Mieten können sie sich ohnehin nicht leisten.

Und dann macht womöglich die Arbeit krank und man fällt ganz aus ...

Richtig. Hinzu kommt, arme Menschen werden signifikant häufiger krank, das alles bedingt sich wechselseitig. Arme Männer haben beispielsweise eine um 10,8 Jahre geringere Lebenserwartung als durchschnittliche Verdiener. Bei Frauen beträgt der Unterschied 8,4 Jahre. Auch das ist beschämend und es müsste dringend politisch gegengesteuert werden.

Wie kann man überhaupt vermeiden, dass man bei einer schweren Erkrankung in die Armut fällt?

Eigentlich müssten Sie am besten ganz viel geerbt haben, damit sie mit einer Krankheit nicht arm werden. Umgekehrt heißt das, wer schon mit Arbeit auf jeden Euro schauen muss, kann oftmals gar nicht die 'richtigen' Versicherungen abschließen oder kündigt sie sogar aus Kostengründen.

Nehmen wir einen aktuellen Fall aus München: Ein Vater von drei kleinen Kindern fällt plötzlich krankheitsbedingt als Geldverdiener aus, die Mutter kann wegen der Kinder nur nebenbei jobben. Was müsste geändert werden, damit diese Familie nicht völlig verarmt?

Vom heutigen Sozialstaat her ist das inzwischen leider schwierig. Akut kann da nicht allzu viel getan werden. Grundsätzlich müsste es eine Kindergrundsicherung geben, die vor Kinderarmut schützt. Auch das ist eine Forderung, die sich im Paritätischen Armutsbericht findet. Der Gedanke ist, dass man raus aus der sogenannten Bedarfsgemeinschaft kommt. Jedes Kind bekäme von Geburt an ein bestimmtes Einkommen und würde so nicht zum Hartz-IV-Empfänger, wenn die Eltern keine Arbeit haben. Damit wären die Kinder schon mal aus dem Schneider.

Wenn die Eltern dann wieder genügend verdienen, kann man das Geld der Kinder ja auch wieder mit dem Gehalt der Eltern gegenrechnen. Alle Dinge, die mit Kindern zu tun haben, also etwa die Kita, sollten doch komplett steuerfinanziert werden. Das müssten wir als Gesellschaft absichern.

Wie sieht es denn in München mit der Fürsorge aus?

In München ist ja mittlerweile jeder Sechste arm. Glücklicherweise achtet die Stadt München darauf, dass es viele Möglichkeiten zur sozialen Teilhabe gibt. In den Alten- und Service-Zentren zum Beispiel gibt es günstiges Essen und niederschwellige kulturelle und Bildungs-Angebote. So müssen alte Menschen mit wenig Mitteln in München nicht vereinsamen. Denn vielfach gilt, wer arm wird, kann sich das gesellschaftliche Leben meist nicht mehr leisten. Viele ziehen sich dann auch aus Scham zurück und bleiben alleine. Ein weiteres sehr positives Strukturangebot der Landeshauptstadt sind die Nachbarschaftstreffs. Sie stabilisieren Hausgemeinschaften und bieten wohnortnahe Teilhabe auch für Menschen mit geringem Einkommen.

© SZ vom 22.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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