70 Prozent Stoff und 30 Prozent Soziales:"Ich möchte gar nicht mehr raus"

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Unterrichtet individuell zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Patientinnen - Lehrer Tobias Url. (Foto: Klinikum Taufkirchen)

Der Realschullehrer Tobias Url hilft Psychiatrie-Insassinnen dabei, ihren Hauptschulabschluss zu machen

Interview Von Thomas Jordan, Taufkirchen

Tobias Url, 31, unterrichtet seit zwei Jahren als angestellter Lehrer an der forensischen Psychiatrie in Taufkirchen. Ein Jahr lang bereitet er Patientinnen darauf vor, ihren Schulabschluss nachzuholen, etwa 20 Stunden pro Woche. Im Gespräch mit der SZ berichtet der Realschullehrer über das Glück, keinen Schuldirektor zu haben und über Lernen als eine Form der Therapie.

SZ: Wie wird man Lehrer in der forensischen Psychiatrie?

Tobias Url: Während meines Referendariats an einer staatlichen Realschule in München habe ich von der Möglichkeit erfahren, hier zu unterrichten. Die Schwierigkeiten haben mich fasziniert: ich wollte wissen, ob ich es schaffe den Patientinnen etwas beizubringen.

Sie haben sich gleich dafür entschieden, hier anzufangen?

Ich habe die Schule draußen kennengelernt. Verglichen damit ist das hier echt angenehm. Ich möchte gar nicht mehr raus. Außerdem habe ich gerade in Landshut mit meiner Frau ein Haus gebaut. Als normaler Realschullehrer wäre ich nach dem Referendariat bis hinter Bayreuth versetzt worden.

Was ist der größte Unterschied zum Unterrichten an einer normalen Schule?

Keinen Direktor zu haben. Was ich hier mache, ist individualisiertes Unterrichten, das an den Bedürfnissen der Schülerinnen ausgerichtet ist. Ich erstelle dafür mein eigenes Unterrichtsmaterial. In einem Jahr muss ich den Stoff vermitteln, den Schüler an der Regelschule in fünf Jahren lernen.

Kann man mit psychisch kranken Menschen den Stoff einfach durchpauken?

In den letzten Wochen vor der Prüfung kann es schon sein, dass ich die Schülerinnen vierzig Stunden pro Woche sehe. Trotzdem geht es bei uns nicht nur um das Fachliche. Das Lernen hat auch therapeutischen Charakter. Ich würde sagen, es geht zu 70 Prozent um den Stoff und zu 30 Prozent um Soziales.

Erinnern Sie sich noch an die erste Begegnung mit den Schülerinnen?

Das war aufregend. Angst habe ich nicht gehabt, aber schon einen gewissen Respekt.

Weil sie Straftäterinnen unterrichten?

Weil ich die Patientinnen noch nicht kannte. Man lernt in diesem Beruf sehr gut, Menschen einzuschätzen. Wie weit es geht, und wann die Patientinnen wieder zurück auf ihre Station müssen, weil sie eine Pause brauchen.

Ihre Schülerinnen sind wegen schweren Diebstahls oder Drogenschmuggel verurteilt worden. Gab es mal eine brenzlige Situation?

Wir haben einige Sicherheitsmaßnahmen im Klassenraum. Scheren oder Zirkel, die man als Waffe verwenden könnte, dürfen nicht frei herumliegen. Außerdem hängt an meinem Gürtel ein Piepser, ein Persönlicher Notfall-Assistent. Wenn ich den drücke, kommt sofort Hilfe. Das habe ich aber noch nie gebraucht.

Wie läuft der Unterricht bei Ihnen ab?

Normalerweise unterrichte ich an jedem Wochentag von 8.30 Uhr bis 11.30 Uhr und von 13 Uhr bis 16 Uhr. Die Zeit, in der ich wirklich unterrichten kann, ist aber begrenzt. Ich würde sagen, es geht so eine dreiviertel Stunde am Stück gut. Trotzdem sehe ich die Patientinnen öfter als so mancher Therapeut.

Was ist das Wichtigste, wenn man psychisch kranke Menschen unterrichtet?

Man braucht Humor, Geduld und ein dickes Fell. Im Laufe der Zeit kommt dann zum gegenseitigen Respekt auch das Vertrauen hinzu.

Was macht ihnen am meisten Spaß in ihrem Beruf?

Die Erfolge der Schülerinnen zu sehen. Am Anfang haben die Schülerinnen große Schwierigkeiten mit dem Einmaleins und nach einem Jahr schaffen viele ihren Schulabschluss. Eine bessere Rückmeldung kann man sich als Lehrer gar nicht wünschen.

Trotzdem gibt es auch bei Ihnen Konflikte. Viele Patientinnen tun sich schwer mit Autorität. Sie haben damit schlechte Erfahrungen gemacht. Am Anfang ertragen sie oft keine Kritik.

Was tun Sie in solchen Fällen?

Man darf nicht vergessen, das sind Erwachsene. Wenn es gar nicht mehr geht, frage ich sie, ob sie auf ihre Station zurückwollen und sich den Stoff selber beibringen wollen.

Klingt radikal.

Ein gewisses Druckmittel muss da sein.

© SZ vom 18.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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