Poing:Aufruf zu Toleranz und Hilfsbereitschaft

Poing gedenkt dem Massaker an KZ-Häftlingen, die vor 70 Jahren aus dem sogenannten "Todeszug" fliehen wollten. Die Redner sind sich darin einig: Nur durch Erinnern lässt sich eine Wiederholung des Schreckens verhindern

Von Michael Haas, Poing

Die fünf Menschen in den weißen Oberteilen tanzen ausgelassen. Sie drehen sich zur Seite, nehmen sich an den Händen, drehen Pirouetten. Hinter ihnen sind mal alte Güterwaggons, mal rote Baracken zu sehen. "I will survive". Das Lied von Gloria Gaynor tönt aus den Lautsprechern - ich werde überleben. Dann taucht im Hintergrund ein Gitter auf. "Arbeit macht frei" steht darüber. Es ist der Eingang des Konzentrationslagers Auschwitz.

Hunderttausende Menschen haben sich das Video seit dem Jahr 2010 im Internet angesehen. Für die einen sei es eine Provokation, für die anderen eines der größten Kunstwerke der Nachkriegszeit, erzählt der evangelische Pfarrer Michael Simonsen. Entscheidend aber sei die Bedeutung für den Mann, der den Mittelpunkt des Videos bildet: Adam Kohn, damals 89 Jahre alt. 1944 war er mit seiner Mutter in das Konzentrationslager deportiert worden, sie wurde dort umgebracht. "Wenn ein Mensch, der zum Opfer gemacht werden soll, die Mörder verlacht, dann ist das der Sieg über die Naziherrschaft", sagte Simonsen am Mittwochabend. Dieses Lachen über die Täter, es soll ein Beispiel sein dafür, wie man den Schrecken des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs begegnen kann. Denn darum soll es gehen an diesem Abend am Poinger Mahnmal, genau 70 Jahre nachdem hier mindestens 50 Menschen erschossen und mehr als 200 verletzt wurden.

"Wie erinnert man an diese Vergangenheit?", fragt Bürgermeister Albert Hingerl (SPD) zu Beginn und ruft den etwa 150 Besuchern die Ereignisse jenes 27. Aprils 1945 in Erinnerung: Ein Zug mit etwa 3600 überwiegend jüdischen Häftlingen der KZ-Lagergruppe Mühldorf musste wegen eines Defekts in Poing Station machen. Als sich unter den Wachmannschaften das Gerücht verbreitete, der Krieg sei vorbei, ergriffen einige die Flucht. Zahlreiche Häftlinge versuchten daraufhin, sich zu befreien und in die umliegenden Häuser und Höfe zu retten. Vergeblich, denn schon bald trieben SS-Leute, Wehrmachtssoldaten und auch einige Zivilisten die Häftlinge mit Gewalt zurück in den Zug. Am Abend fuhr er weiter in Richtung Tutzing, erst drei Tage später wurden die Häftlinge durch die Alliierten befreit.

Poing: Dort wo vor 70 Jahren SS-Leute, Wehrmachtssoldaten flüchtende KZ-Häftlinge schossen, erinnert heute in Poing ein Mahnmal an das Schicksal der Getöteten.

Dort wo vor 70 Jahren SS-Leute, Wehrmachtssoldaten flüchtende KZ-Häftlinge schossen, erinnert heute in Poing ein Mahnmal an das Schicksal der Getöteten.

(Foto: Christian Endt)

Hingerl erinnert auch an die beiden Zeitzeugen Max Mannheimer und Leslie Schwartz, die in jenem Zug waren und seit Jahrzehnten in Vorträgen von ihren Erlebnissen berichten. Die Begegnung mit solchen Zeitzeugen und der Besuch von Gedenkstätten seien wichtig, um das Geschehene zu begreifen, sagt Hingerl. "Erinnern für die Zukunft" heißt dabei sein Motto. "Wir sind es, die für den Umgang mit der Vergangenheit verantwortlich sind." Er fordert die Anwesenden auf, diese Verantwortung wahrzunehmen, tolerant und hilfsbereit zu sein. "Wir müssen wachsam sein, wenn die Menschenrechte in Gefahr sind."

Auch Simonsen mahnt in seiner Rede zur Menschlichkeit und verweist auf eine biblische Geschichte: "Wo wir gewahr werden, dass Kain wieder seinen Bruder erschlagen will, müssen wir uns vor Abel stellen und ihn schützen." Es dürfe nicht nur Aufgabe der Historiker sein, an die Zeit des Nationalsozialismus zu erinnern und daran zu forschen. "Ein Erinnern ist alternativlos", sagt Simonsen.

Davon zeigt sich auch der katholische Pfarrer Michael Holzner überzeugt. Es gebe schließlich auch in der heutigen Zeit Themen, bei denen man aufpassen müsse, dass nicht auf subtilere Weise ähnliche Dinge wie in der Zeit des Nationalsozialismus geschähen, sagt er wohl unter anderem mit Blick auf die jüngsten Brände in Unterkünften für Asylbewerber. Holzner betont, wie wichtig es sei, Zivilcourage zu beweisen und sich gegen Unrecht einzusetzen. Die Anfänge des Nationalsozialismus zeigten: "Es ist keinesfalls gleichgültig, wie man über andere redet." In seiner sehr nachdenklichen Rede stellt Holzner dann vor allem Fragen zur Zukunft des Erinnerns. "Wie gelingt es, den Blick auf das, was geschehen ist, wach zu halten, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt?" Er mache sich Sorgen, wie man ohne diese Menschen an Ereignisse erinnern könne, an denen schon jetzt viele Menschen kein Interesse mehr hätten. Holzner blickt in nachdenkliche Gesichter und zum 2010 eingeweihten Mahnmal des Poinger Künstlers Karl Orth, einen Betonsockel, auf dem 50 Eisenskulpturen an die Toten des 27. April 1945 erinnern. "Reicht so ein Stein, reicht so ein Mahnmal?", fragt er leise und schweigt. "Ich selbst weiß keine Antwort." Doch man werde sich der Frage stellen müssen, sagt Holzner.

Poing: Poings Bürgermeister Albert Hingerl mahnt seine Zuhörer zu Toleranz und Hilfsbereitschaft.

Poings Bürgermeister Albert Hingerl mahnt seine Zuhörer zu Toleranz und Hilfsbereitschaft.

(Foto: Christian Endt)

Noch aber ist etwas Zeit, sich neue Wege des Erinnerns zu überlegen. Denn die Zeitzeugen werden zwar älter und weniger, aber ans Aufhören denken die meisten nicht - auch wenn sie wie Leslie Schwartz oder Max Mannheimer bereits weit über 80 Jahre alt sind. "Ich mache weiter", sagt auch die gebürtige Poingerin Brigitte Dinev, die am Ende der Gedenkfeier ans Mikrofon tritt. Sie war sieben Jahre alt, als der Zug in Poing Station machte, aus einem Fenster beobachtete sie das Geschehen. Heute erzählt sie Kindern und Jugendlichen von den damaligen Ereignissen, die Reaktion ist meistens positiv. Viele seien sehr interessiert, sagt Dinev. Darüber reden - das sei wichtig, sagt die Zeitzeugin. Denn Blumen am Mahnmal niederzulegen sei ja nur ein äußeres Zeichen des Gedenkens.

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