Noch fehlen Fachkräfte:Ungewöhnliche Vierer-WG

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Lebenshilfe plant neue Wohnform für Menschen mit Behinderung

Von Gudrun Regelein, Marzling

Eigentlich sollten die Bewohner der ersten ambulanten Wohngemeinschaft für Menschen mit Behinderung im Landkreis Freising Anfang Mai in ihr neues Zuhause einziehen. Aber: "Wir haben noch nicht genügend Personal gefunden, wir suchen noch", sagt Martina Neumeyer, Bereichsleiterin Wohnen und Förderung bei der Lebenshilfe Freising. Wegen des leer gefegten Markts für Fachkräfte muss der Start womöglich verschoben werden. Schlimmstenfalls könnte das innovative Projekt ganz scheitern.

Drei junge Männer und eine Frau wollen in einem Reihenhaus in einem Marzlinger Wohngebiet ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen - trotz ihrer geistigen Behinderung. Der 33-jährige Wolfgang lebt seit 2012 in der integrativen Wohnanlage der Lebenshilfe. Nun freut er sich darauf, mit Menschen, die er kennt und mag, in einem familiären Umfeld zusammenzuleben. Er würde gerne für alle kochen, das habe er von der Oma gelernt, sagt er. "Ich kann Omelette machen, Fleischpflanzerl und Pfannkuchen." Florian, sein Arbeitskollege, hat sich sofort für die WG entschieden, als er davon erfuhr. Der 26-Jährige freut sich auf die Gemeinschaft mit den anderen, auf das gemeinsame Einkaufen fahren oder die Fernsehabende. Auch Lukas, sein jüngerer Bruder, will mit in die Wohngemeinschaft ziehen. "Die Mitbewohner haben sich ohne unser Zutun gefunden", sagt der künftige Hausleiter, Stephan Hackl. Das Projekt sei eine "super Geschichte" - auch da in der kleineren Wohnform Menschen mit höherem Hilfsbedarf betreut werden können. "Das ist ein komplett neues Wohnen, das man vielfältig aufziehen kann."

Die künftigen Bewohner der ambulanten WG, die eigentlich Platz für fünf Menschen bietet, werden zwar durch Fachkräfte betreut. Dennoch hat diese Wohnform für Martina Neumeyer viel mit Normalität und Inklusion zu tun. "Sie sollen sich eine eigene Welt schaffen. Sie haben die Wahlfreiheit dazu", sagt sie, auch weil die Bewohner inmitten einer Gemeinde leben werden, sich in dem kleinen Ort integrieren könnten. Das Modellprojekt, das es in dieser Form in Oberbayern noch nicht gibt, soll in Kooperation mit dem Pflegedienst der Caritas - der werktags den Frühdienst übernimmt - realisiert werden. Für die Eingliederungshilfe, die dann nachmittags, wenn die Bewohner von ihrer Arbeit zurückkehren, stattfinden soll, wolle man eigene Kräfte einsetzen. "Das Kunststück ist, für jeden Bewohner individuell herauszufinden, was dieser leisten kann, um möglichst selbständig leben zu können." Dazu aber brauche man erfahrene Betreuer - und genau das sei derzeit das Problem.

Zwar habe man für zwei Tage bereits die Mitarbeiter gefunden, aber noch nicht für die drei anderen Tage und für die Wochenenden, schildert Neumeyer. "Die vier Bewohner stehen auf der Matte und warten", sagt sie. Zwei leben derzeit in der integrativen Wohnanlage der Lebenshilfe, zwei bei ihrer Mutter. Noch hofft Neumeyer, das Projekt dennoch starten zu können. "Wir als Lebenshilfe sagen, selbst ein schwerst- und mehrfachbehinderter Mensch sollte diese Möglichkeit haben. Er sollte wählen können und nicht in Sondereinrichtungen leben müssen."

Auch Monika Haslberger, Vorstandsmitglied der Lebenshilfe Freising, sieht in dem gemeinsamen Wohnen in einer WG viele Vorteile. Die Rückzugsmöglichkeiten beispielsweise, die die kleine Wohnform bietet. Oder auch die Selbständigkeit. "Sie müssen sich selber Frühstück machen oder sich am Abend etwas kochen, den Haushalt führen." Das sei zwar eine Herausforderung, aber diese könne gemeistert werden und tue den Bewohnern gut. Die Lebenshilfe plant, im Landkreis Freising flächendeckend Wohngemeinschaften für Menschen mit Behinderung aufzubauen. "Auch wenn es nicht einfach ist, geeignete Objekte zu finden."

© SZ vom 19.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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