Mitten im Nirgendwo:Vergessene Normalität

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Wir verdrängen aus Selbstschutz. Nicht nur Schulangst und Akne. Das funktioniert auch in kurzen Zeiträumen.

Glosse von Alexandra Leuthner

Manches ist längst in Vergessenheit geraten. Manches aus der Zeit vor der Corona-Pandemie. Die Jugend etwa. Ach nee, die ist doch schon etwas länger her.

Nun ist es eine wissenschaftlich belegte Tatsache, dass unser Gedächtnis selektiv ist. Es neigt dazu, die positiven Erinnerungen zu bewahren, und die weniger schönen zu verklären. So bleibt von der ganzen Presserei im Kreißsaal jener Augenblick der Erleichterung besonders haften, in dem das eigene Kind endlich den ersten Schrei tut. Die oben gedanklich gestreifte Jugend erscheint als dauerweichgezeichnete Rosamunde-Pilcher-Sequenz, Anfälle pubertärer Depression, Monate unerfüllter Liebe und der Geruch von Clearasil werden einfach ausgeblendet. Und die Schule erst! Eine einzige Anhäufung von Momenten der Freundschaft und der Freiheit. Vergessen die panische Angst vor der nächsten Mathe-Ex oder der Ärger über den Englischlehrer Herrn S.

Die Psychologie hat dieses Phänomen längst beschrieben: Wir verdrängen aus Selbstschutz. Das funktioniert auch in weitaus kürzeren Zeiträumen, zweijährigen Pandemien etwa. So war es ein Leichtes, die unschönen Folgen geselliger Kneipenabende zu vergessen. Wer wollte sich schon an die Kopfschmerzen erinnern, oder an den Moment, in dem solche Abende an einem zugigen Bahnhof im Nirgendwo des Münchner Verkehrsverbunds endeten, den Blick auf die verschlossenen Türen eines Zugs, der statt in Richtung Heimatbahnhof auf ein nächtliches Abstellgleis fuhr.

Gute, alte Normalität. Kaum kehrt sie wieder, werden dem beseelten Besucher eines Konzerts - in diesem Falle, einer Besucherin - all diese verdrängten Details eines vergangenen Lebens ganz schnell wieder bewusst, wenn sie - noch verzaubert von Gitarrenklängen und in wunderschönen Textzeilen beschworenen Gefühlen - versucht, am Rosenheimer Platz eine S-Bahn zu bekommen. Stattdessen erwartet sie außer einigen anderen Zombies, die verloren an irgendwelchen Säulen lehnen und auf ihren Lift nach Hause warten, nur eine Durchsage: "Die S 3 Richtung Ostbahnhof, planmäßige Abfahrt 23.50 Uhr, fällt leider aus, wir bitten um Entschuldigung." Und gleich die nächste: "Die S6 Richtung Grafing, planmäßige Abfahrt 23.56 Uhr ..."

Da fällt ihr alles, alles wieder ein. Dass sie dem MVV noch nie getraut hat, dass der gerne mal spontan in den nächtlichen Lockdown geht, dass es unsinnig ist, auf Durchsagen im Zug zu hoffen, die vielleicht schon bei der Hinfahrt am frühen Abend darauf hinweisen, dass es später ein Problem geben könnte, dass man nie, nie, nie mit dem MVV planen sollte, ohne vorher die gleichnamige App, die Münchner Medien, vielleicht ja den Verkehrsminister persönlich konsultiert zu haben. Aber auch das ist in zwei Jahre Pandemie irgendwie in Vergessenheit geraten.

© SZ vom 02.04.2022 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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