Kommentar:Ein großes Wunschkonzert

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Was ist zu tun, wenn man vor der größten Herausforderung seit ewigen Zeiten steht und einen komplett neuen Stadtteil entwickeln muss?

Von Gerhard Wilhelm, Erding

Was macht man als Stadt, wenn man vor der größten Herausforderung seit ewigen Zeiten steht und einen komplett neuen, riesigen Stadtteil entwickeln muss. Auf rund 350 Hektar. Professor Alain Thierstein hatte in seinem Vortrag die zwei Möglichkeiten für Erding aufgezeigt. Das komplette Gelände von der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben zu kaufen, sich keine weitere Gedanken zu machen und alles verscherbeln - mit maximalem Gewinn. Der einfache Weg. Oder den zweiten Weg zu beschreiten, den langen, aufwendigen, der zu einer "Mammutaufgabe" werden wird. Der Weg, alles so zu überplanen, dass auch die nächsten Generationen vielleicht mit Stolz auf den neuen Stadtteil blicken, weil er Maßstäbe in der Stadtplanung setzt. Der Erdinger Stadtrat hat sich für den zweiten Weg entschieden.

Und da sind wir beim Dilemma: Was ist die "beste Lösung"? Wer definiert sie im sich bereits jetzt herauskristallisierenden Konfliktdreieck Bürger, Politik und Fachleute? Bei den Bürgern wird, wie oft, eine kleine Gruppe lautstark ihre Meinung vertreten, während die Mehrheit schweigt. Politiker denken gerne von Wahl zu Wahl und wie sie ihr "Klientel" am besten vertreten können. Und Fachleute? Sollten eigentlich die objektiv beste Lösung wissen, aber werden dann doch oft nicht erhört, weil es nicht ins gemalte Bild einer der anderen Gruppe passt.

Bei der geplanten Konversion kommen zudem weitere Faktoren ins Spiel, die bei der Auslobung des städtebaulichen Wettbewerbs wohl noch keiner auf dem Schirm hatte: die Corona-Pandemie hatte zwar schon die Probleme der Globalisierung aufgezeigt, die Abhängigkeit von einzelnen Exporteuren, dann brachte der Ukraine-Krieg die Energiekrise, Inflation, Rezessionsangst. Die Verwendung fossiler Energieträger wie Erdöl oder Gas im neuen Stadtteil dürfte damit zum Beispiel passé sein, alles muss auf erneuerbare Energien ausgerichtet werden, auch die Mobilität. Und es gibt weitere Faktoren: Wann kommt der Ringschluss bei der S-Bahn tatsächlich? Und wenn der Krieg eskalieren sollte, wird dann noch verkauft?

Wer sich deshalb jetzt an dem Entwurf des Wettbewerbssiegers orientiert, sollte seine Emotionen runterschrauben und alles als das sehen, was es derzeit ist: ein großes Wunschkonzert.

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