Herausforderung:Die Chance auf ein neues Leben

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Jedes Jahr holen Straftäterinnen aus der forensischen Psychiatrie in Taufkirchen ihren Schulabschluss nach. Das Lernen ist beides: Therapie und Baustein einer besseren Zukunft für die Patientinnen

Von Thomas Jordan, Taufkirchen

Die Vorhänge sehen aus wie in jedem anderen Klassenzimmer auch. Sonnengelb sind sie und so hässlich, wie es die Brandschutzverordnung vorschreibt. Ansonsten ist so gut wie nichts normal in diesem zum Klassenzimmer umgebauten Stationszimmer in der forensischen Psychiatrie des Klinikums Taufkirchen. Wie eine Festung liegt das rot-weiße Gebäude mit den hohen Mauern am hintersten Ende des Klinikparks in Taufkirchen. Niemand kommt freiwillig hierher. Wer hier ist, wurde in Bayerns einziges psychiatrisches Frauengefängnis eingewiesen. Auf richterliche Anordnung. 174 Patientinnen sind es im Moment. Sie sind hier, weil ihnen die Drogen die Sinne vernebelt haben, weil sie in einer Psychose andere Menschen verprügelt haben. Oder weil sie in einem erweiterten Selbstmordversuch ihr Kind getötet haben. Jedes Jahr versuchen etwa zehn von ihnen, ihrem Leben eine zweite Chance zu geben. Hier, in dem improvisierten Klassenzimmer mit den sonnengelben Vorhängen lernen sie auf ihren Haupt- oder Realschulabschluss.

Von der Ecke links oben linst die Kamera herunter, das schmale Seitenfenster ist vergittert. In dem kleinen Raum stehen vier Doppeltische in zwei Reihen hintereinander. Auf ihnen sitzen Claudia, Gaby, Nadine und Andrea. Jede von ihnen hat ihre ganz eigene Geschichte. Deshalb sollen auch ihre Nachnamen nicht in der Zeitung stehen. Sie sind zwischen 25 und 40 Jahre alt und sie kommen aus Franken ebenso wie aus Altbayern. Seit ein paar Wochen haben sie aber alle eines gemeinsam: Sie haben es geschafft. Sie haben einen Schulabschluss. Wenn sie entlassen werden, können sie eine Lehre machen, ein neues Leben beginnen. Es ist die zweite Chance, an die viele von ihnen selbst schon nicht mehr geglaubt haben. "Mein Lieblingswort war immer: ich kann das nicht", sagt Gaby auf ihrem Platz in der zweiten Reihe.18 Monate hat Gaby bekommen für schweren Autodiebstahl und Betrug, in Verbindung mit Drogenkonsum. Nach einem Jahr gemeinsamem Lernen in der Vorbereitungsklasse in Taufkirchen hat sie ihre Meinung über sich selbst geändert. "Ich kann nicht, heißt eigentlich, ich will nicht" sagt sie heute und ergänzt: "Jede Herausforderung ist super".

Gleich neben ihr sitzt Claudia. Die Arme hat sie schwer auf die Tischplatte gelegt. Auf ihren breiten Unterarmen sind im Millimeterabstand dutzende, quer verlaufende Schnitte zu sehen. Claudia wirkt erschöpft. Wenn man ihr eine Frage stellt, hebt sie langsam den Kopf und blickt einen unsicher an. Die massige junge Frau leidet an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, in jedem Moment kann ihre Stimmung kippen. Ob sie die forensische Psychiatrie jemals wieder verlassen kann, ist ungewiss. Seit drei Jahren versucht sie trotzdem, einen Schulabschluss zu machen. Dieses Mal hat sie es endlich geschafft.

Als Tobias Url Claudia zum ersten Mal sah, war er nahe daran, zu verzweifeln. Der 31-Jährige Url ist an der forensischen Psychiatrie als Lehrer angestellt. Etwa 20 Stunden pro Woche lernt er mit den Patientinnen in dem kleinen Raum mit den sonnengelben Vorhängen, um sie auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten. Wie sollte er Claudia Mathe, Geschichte und Deutsch beibringen, fragte er sich, wenn sie es nicht einmal schafft, ihn anzusehen? Inzwischen, zwei Jahre später, sei sie ihm gegenüber ganz offen, sagt Url. Bei manchen Patientinnen gehe es nicht nur um den Abschluss, sagt der studierte Realschullehrer. "Manchmal hat der Unterricht auch therapeutische Qualität." Claudia wird im nächsten Jahr wieder mit Tobias Url lernen, obwohl sie den Abschluss schon hat. "Die Schule macht ihr Spaß und fördert sie", sagt Url.

Seit dem Jahr 2013 gibt es im Klinikum Taufkirchen das Angebot, sich ein Jahr lang auf den Hauptschulabschluss vorzubereiten. Als externe Bewerber können die Patientinnen die Prüfungen dann an der Mittelschule Taufkirchen ablegen. Die Leiterin der forensischen Psychiatrie Taufkirchen, Verena Klein, kann sich vorstellen, in Zukunft noch mehr Lehrer dafür einzustellen. Ein Schulabschluss verbessert laut der Chefärztin das Selbstbewusstsein der Patientinnen und erhöht die Chance, dass sie später keine neuen Straftaten begehen. "Bei Süchtigen steigert das Erfolgserlebnis auch die Abstinenzfähigkeit", sagt Klein.

Um diesen Effekt zu erreichen, müssen sich die Patientinnen aber erst einmal mit mathematischen Gleichungen, deutscher Geschichte und Hauswirtschaftslehre abmühen. "Am schlimmsten waren die mündlichen Prüfungen" sagt Nadine. Die Aufregung, der Erwartungsdruck. "Oh Gott!", habe sie sich gedacht, sagt die 31-Jährige. Bei den schriftlichen Prüfungen sei dagegen genau das drangekommen, worauf sie sich vorbereitet habe. "Ich wollte schauen, was ich durch meinen Drogenkonsum schon zerstört habe", sagt sie, wenn man sie nach ihrer Motivation für den Abschluss fragt. Jahrelang hatte die schlanke Frau mit den blondgefärbten Haaren Heroin genommen. Der Drogenkonsum ist an ihr nicht spurlos vorbeigegangen, man sieht das an ihren Zähnen. Den qualifizierten Hauptschulabschluss hatte sie schon, bevor sie nach Taufkirchen kam. Vor ihrer Einweisung hatte sie als Schrotthändlerin gearbeitet. Nadine entschied sich deshalb als einzige dafür, den M-Zweig zu belegen und den Realschulabschluss zu machen. Wenn sie von ihren Abschlussprüfungen erzählt, wird ihr Lächeln mit jedem Satz breiter. "Mir hat die Schule sehr geholfen, Willen und Durchhaltevermögen zu stärken", sagt die 31-Jährige. In wenigen Tagen soll sie entlassen werden. Sie hat ihre 19 Monate verbüßt. Als einzige hat sie bereits eine Zusage für eine Lehrstelle. Nadine will Konditorin werden. "Wenn ich sehe, es schmeckt den Anderen, dann macht mich das glücklich", sagt die 31-Jährige.

"Ich will zurück in den Bäckerei-Verkauf", sagt auch Andrea. Die 40-Jährige hat mit einem Notendurchschnitt von 2,1 den besten Hauptschulabschluss aller Patientinnen abgelegt. Andrea hat dabei nicht nur gelernt, sich selbst besser einzuschätzen und "Stopp" zu sagen, wenn sie überfordert ist. Die gebürtige Tschechin hat im Unterricht auch einen neuen Blick auf Deutschland erworben. "Man denkt von außen, das war immer schon ein reiches Land." In ihrem Lieblingsfach, dem Geschichtsunterricht hat sie sich dann mit der Zeit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt. "Ich habe nicht gewusst, wie schlecht es den Menschen damals ging", sagt sie nachdenklich. Bei Nadine ist es die Mathematik, die sie neu für sich entdeckt hat. "Ihre neue Liebe" nennt sie das Fach und lacht.

Wenn Psychiatrie-Patientinnen plötzlich für Schulfächer schwärmen, dann hat das viele Gründe. Die gute Ausstattung in dem kleinen Klassenzimmer in Taufkirchen zählt sicher mit dazu. Statt einer Tafel haben sie hier ein digitales Whiteboard, das die ganze Wand einnimmt. Dokumente werden mit Digitaltechnik an die Wand projiziert und für jede Patientin gibt es einen eigenen Laptop. Fragt man aber die erwachsenen Schülerinnen, was ihnen am meisten geholfen hat, um ihre zweite Chance im Leben zu bekommen, sind sie sich einig: "Die Geduld und die guten Nerven" von Lehrer Tobias Url.

© SZ vom 18.08.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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