Erinnerungskultur in Erding:"Warum haben wir uns so lange nicht interessiert?"

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Mit einem Gedenkgang zu einem ehemaligen Lager bei Eichenkofen wird das öffentliche Gedenken an die NS-Zwangsarbeiter im Landkreis Erding fortgesetzt. Das Bündnis "Gesicht für Gesicht" stellt den Antrag, ein Denkmal gegen das Vergessen zu errichten

Von Florian Tempel, Erding

Nach der ersten Veranstaltung auf dem Schrannenplatz vor einer Woche hat das Bündnis "Gesicht für Gesicht" an diesem Samstag zu einer weiteren Aktion zur Erinnerung an die NS-Zwangsarbeiter geladen, die von 1939 bis 1945 im Landkreis Erding ausgebeutet wurden. Während man am 8. Mai, am Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus, im Zentrum Erdings zusammengekommen war, fand der zweite Teil des Gedenkens weit draußen am nördlichen Stadtrand statt. Etwa 60 Menschen waren nach Eichenkofen gekommen, um gemeinsam zum Ort eines ehemaligen Barackenlagers etwa eineinhalb Kilometer nördlich von Eichenkofen zu gehen. Während des zweiten Weltkriegs lebten in dem großen Lager etwa 800 Männer, Frauen und Kinder. Von den Baracken ist nichts mehr vorhanden. Mit einem provisorischen Denkmal, das der Oberdinger Künstler Wolfgang Fritz entworfen hat, machten das Bündnis "Gesicht für Gesicht" deutlich, dass an dieser Stelle etwas fehlt. Katarína Farbová und Stephan Glaubitz spielten während der Veranstaltung auf der Klarinette und am Kontrabass herzzerreißend schöne Musik.

Der Erinnerungsgang war von der Pax Christi-Gruppe Erding-Dorfen organisiert worden. Am Treffpunkt vor der Eichenkofener Kirche machte Gesine Goetz in einer einleitenden Ansprache deutlich, welches Ausmaß das System der Ausbeutung von Zwangsarbeitern in der Zeit des Nationalsozialismus hatte. Insgesamt mussten von 1939 bis 1945 etwa 13 Millionen ausländische Menschen im Deutschen Reich schuften, um die Kriegswirtschaft und die Versorgung der Deutschen zu sichern. Mehr als 8000 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter waren während des Zweiten Weltkriegs in den Landkreis Erding verschleppt worden. Ein Zehntel von ihnen, musste unter elenden Bedingungen im Lager bei Eichenkofen hausen.

Am Erinnerungsgang zum Ort des ehemaligen Barackenlagers nahmen etwa 60 Personen teil. (Foto: Renate Schmidt)

Der gemeinsame Erinnerungsgang führte die Teilnehmer zu der Stelle, wo seit einigen Jahren an die früher dort in großer Zahl vorhandenen Grabhügel erinnert wird. An diesem sogenannten authentischen Ort gibt es Informationstafeln, die über die archäologischen Funde und Erkenntnisse aufklären. Über das Lager Eichenkofen wird an einer anderen Stelle in Erding, auf Informationstafeln an der Erlöserkirche in Klettham, berichtet, aber nur als Flüchtlingslager, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg Vertriebene lebten. Sie wohnten in denselben Baracken, in denen zuvor die Zwangsarbeiter einquartiert worden waren.

Gesine Goetz und Monika Schwarzenböck von Pax Christi machten deutlich, dass diese gravierende Lücke geschlossen werden müsse. Das provisorische Denkmal, das am Samstag neben dem Grabhügel aufgestellt war, "ist sozusagen unser Antrag an den Stadtrat, bitte schön, hier gehört ein Denkmal hin", sagte Goetz. Wolfgang Fritz erläuterte seinen Entwurf, der nur eine "erste Ideenskizze" sei: Ein Stele aus dunklen Brettern, ähnlich denen der Lagerbaracken, mit Fotos und biografischen Daten von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Der Antrag für ein Denkmal muss wohl nicht erst noch schriftlich formuliert und eingereicht werden. Oberbürgermeister Max Gotz (CSU) und die Zweite Bürgermeisterin Petra Bauernfeind (FW) waren zum Erinnerungsgang gekommen.

Der Historiker Giulio Salvati erklärte, dass ein großer Teil der Verschleppten am nahen Fliegerhorst schuften mussten, um die deutsche Kriegsmaschinerie aufrecht zu erhalten. (Foto: Renate Schmidt)

Der Historiker Giulio Salvati, der in den vergangenen Jahren intensiv zum Thema Zwangsarbeit im Landkreis geforscht hat, freute sich besonders, dass auch der 1934 geborene Historiker Hans Niedermayer gekommen war, der als Erster im Landkreis über das Schicksal von NS-Zwangsarbeitern recherchiert und viele Aufsätze dazu verfasst hat, die unter anderen in der SZ Erding publiziert worden sind. Auch die 86-jährige Marianne Rötzer, Ehrenkreisbäuerin und ehemalige stellvertretende Landrätin, hatte es sich nicht nehmen lassen im Rollstuhl beim Gedenkgang dabei zu sein.

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Salvati legte in einer kurzen Ansprache dar, dass die Erkenntnisse zum Eichenkofener Lager vor allem auf den von ihm und seinem Freiwilligenteam ausgewerteten Arbeitskennkarten des Arbeitsamts Erding basieren, die heute im Staatsarchiv in München lagern. Aus den Karteikarten lässt sich erkennen, dass ein großer Teil der Zwangsarbeiter am Fliegerhorst eingesetzt waren. Die Verschleppten mussten also unter Zwang arbeiten, um den mörderischen Krieg der Deutschen aufrecht zu erhalten. Nicht wenige kamen bei Luftangriffen der Alliierten auf den Fliegerhorst ums Leben.

Gesine Goetz zeigte ein Foto aus der Nachkriegszeit, als in denselben Baracken Vertrieben lebten; links hinter ihr das provisorische Denkmal von Wolfgang Fritz. (Foto: Renate Schmidt)

In einer Andacht wurden schließlich Namen, Alter und Herkunftsland von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern verlesen, um an alle Verschleppten, Ausgebeuteten und Vergessenen zu erinnern. Dazu wurden auch eindringliche Fragen vorgelesen: "Ob sie ihre Familien wiedergefunden haben? Warum hat unser Land so wenig Wiedergutmachung versucht? Warum haben wir uns so lange nicht interessiert?"

© SZ vom 17.05.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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