Landkreis Erding:Die Armut im Alter nimmt zu

Lesezeit: 3 min

Bedürftige Menschen warten vor einer Tafel. Wer Grundsicherung erhält, ist berechtigt, dort Lebensmittel zu erhalten. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

876 Rentner bezogen im 1. Quartal vom Sozialamt die sogenannte Grundsicherung. So viele, wie noch nie. Viele Bedürftige stellen aus Scham erst gar keinen Antrag. Betroffen sind überwiegend Frauen.

Von Gerhard Wilhelm, Erding

In Deutschland sind immer mehr Menschen im Rentenalter auf Hilfe vom Sozialamt angewiesen. Das zeigen noch unveröffentlichte Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Danach haben Ende des ersten Quartals 2023 mehr als 684 360 Senioren Grundsicherung im Alter bezogen. Mehr als je zuvor. Im Landkreis Erding ist die Situation nicht besser. Nach Angaben des Landratsamtes erhielten Ende des ersten Quartals 876 Personen "Hilfe zum Lebensunterhalt und Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung". Ende 2022 waren es 838, ein Jahr zuvor 729 Personen. 2020 sogar nur 660. Dazu kommt wohl eine hohe Dunkelziffer von tatsächlich bedürftigen Menschen, die aber keinen Antrag auf Grundsicherung gestellt haben.

Personen, die die Altersgrenze erreicht haben und auf Dauer ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenen Einkommen bestreiten können, haben Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung im Alter, die in Kapitel vier des Zwölften Sozialgesetzbuches (SGB XII) geregelt ist. Zum Umfang der Leistungen zählen der "Regelbedarf" (unter anderem für Ernährung, Kleidung oder Körperpflege), die "angemessenen" Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, eventuell Mehrbedarfe und die Übernahme von Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträgen, Zusatzbeiträgen und Vorsorgebeiträgen.

Newsletter abonnieren
:SZ Gerne draußen!

Land und Leute rund um München erkunden: Jeden Donnerstag mit den besten Freizeittipps fürs Wochenende. Kostenlos anmelden.

Die Deutsche Rentenversicherung empfiehlt alten Menschen mit einem Einkommen unter 924 Euro, Ansprüche auf Grundsicherung prüfen zu lassen. Ein Teil des aktuellen Zuwachses bei den Zahlen geht darauf zurück, dass Geflüchtete aus der Ukraine seit Juni 2022 Grundsicherungsleistungen beziehen können. Doch das allein erklärt den Anstieg seit 2020 nicht, da von 2020 auf 2021 ebenfalls eine starke Zunahme zu verzeichnen ist - und zwar um 69 Personen.

Armut im Alter ist schwer greifbar, sagt Petra Bauerfeind

Armut im Alter ist schwer greifbar, sagen Petra Bauernfeind, die Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe Erding und Leiterin der Erdinger Tafel, und auch Melanie Schmerbeck von der Sozialen Beratung beim Caritas Zentrum in Erding. "Bei der Tafel merken wir nicht konkret, dass immer mehr ältere Menschen in die Armut rutschen, da es für die meisten eine Überwindung ist, zur Tafel zu gehen". Vieles habe mit versteckter Scham zu tun, sagt Bauernfeind. Ältere Personen trügen ihre Problem eher nicht nach Außen. "Die sind einfach anders erzogen worden, wollen nicht als Bittsteller auftreten. Auch wenn es ihnen auf dem Papier zusteht, wollen sie nichts in Anspruch nehmen, es selber schaffen." Wer zur Tafel komme, beziehe schon Grundsicherung oder Hilfe zum Lebensunterhalt.

Auch Melanie Schmerbeck berichtet ähnliches: "Wir merken, dass viele Menschen gar nicht wissen, dass sie einen Anspruch haben. Sie kommen mit ihrer Minirente nicht über die Runde, kommen zu uns aber erst, wenn es Probleme gibt, zum Beispiel mit der Miete. Wir helfen schon öfters mal bei Grundsicherungsanträgen". Auch sie sehe, dass es vor allem ältere Person Überwindung koste, ihre Scham zu überwinden. Die Dunkelziffer bei älteren Leuten sei deshalb "viel, viel höher". Gefühlt seien es vor allem Frauen, die betroffen seien, sagt Schmerbeck. Aber auch Männer, die oft wegen psychischer Probleme weniger oft gearbeitet hätten. Dazu komme derzeit auch die Inflation als Kostentreiber.

Frauen verdienen in ihrer Erwerbszeit weniger oder arbeiten nur Teilzeit

Die Statistik bestätigt die Caritas-Mitarbeiterin: Rund 57 Prozent der Empfänger von Grundsicherung im Rentenalter waren zuletzt Frauen. Steigende Kosten durch Mieten, Energie und vor allem Lebensmittel belasten viele langjährige Rentenbeziehende, bei denen das Geld nun nicht mehr ausreicht, schreibt der Sozialdienst Deutschland (SoVD). Auch er geht von einer hohen Dunkelziffer von Betroffenen aus, die ebenfalls unter dem Existenzminimum leben, aus Scham oder Unwissen aber keine Sozialleistungen in Anspruch nehmen.

Warum vor allem Frauen betroffen sind, war Anfang Juli Thema bei der Frauen-Alterssicherungskonferenz von SoVD und Verdi. In der ausschließlich geringfügig entlohnten Beschäftigungen seien Frauen mit rund 60 Prozent in der Mehrheit. Ein wesentlicher Grund für den hohen Teilzeitanteil und die geringere Wochenarbeitszeit von Frauen seien die Betreuung von Kindern beziehungsweise familiäre Verpflichtungen. Dabei sei die reduzierte Arbeitszeit oft eher unfreiwillig, viele in Teilzeit arbeitende Frauen würden ihre Arbeitszeit ausweiten, wäre es ihnen möglich. Derzeit sei die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern bei 18 Prozent und die Rentenlücke bei 30 Prozent.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Landkreis Erding
:Tafeln stoßen an ihre Grenzen

Die Zahl der Bedürftigen ist innerhalb eines Jahres um bis zu 20 Prozent gestiegen. Die Ausgabe von Lebensmitteln erfolgt, mit Ausnahme von Dorfen, bereits 14-tägig. Die Spenden reichen derzeit gerade noch so.

Von Gerhard Wilhelm

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: