Dorfen:Durch die Hölle

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Leslie Schwartz, der die KZs Auschwitz und Mühldorf und den Mühldorfer Todeszug überlebt hat, vor dem Denkmal in Poing. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Leslie Schwartz hat als 15-Jähriger den Mühldorfer Todeszug überlebt. Bei einer Gedenkveranstaltung in Dorfen erinnert er daran, was damals geschehen ist

Von Florian Tempel, Dorfen

Etwa 3000 Menschen steigen an jedem normalen Werktag in Dorfen in einen der aus Mühldorf kommenden Regionalbahnen Richtung München ein. Ein schneller Zug braucht nur eine halbe Stunde bis zum Ostbahnhof, etwa zehn Minuten länger zum Münchner Hauptbahnhof. Es ist eine gute Verbindung. Das Zugfahren ist in den vergangenen Jahren angenehmer geworden. Früher gab es viele Klagen über Unpünktlichkeiten, zu wenige Sitzplätze, ausgefallene Heizungen im Winter und Hitze in den Waggons im Sommer. Mittlerweile fahren fast nur noch moderne Doppelstockwagen auf der Strecke. Am frühen Abend sind die meisten Pendler wieder zurück in Dorfen.

Wenn am Dienstag um 18 Uhr viele Pendler in Dorfen ankommen, werden sie sich womöglich etwas wundern. Vielleicht fällt ihnen die ungewöhnliche Menschenansammlung auf, die an der Ostseite des Bahnhofs stehen wird. Man sollte sich die Zeit nehmen, dazukommen und zuhören. Es ist eine Gedenkfeier zur Erinnerung an den Mühldorfer Todeszug, der vor 70 Jahren hier vorbeikam.

Leslie Schwartz wird an der Gedenkfeier teilnehmen. Der 85-Jährige war einer von etwa 3600 jüdischen Häftlingen aus dem Konzentrationslagerkomplex bei Mühldorf, die in der Nacht vom 25. auf den 26. April 1945 von SS-Männern in 60 bis 80 Viehwaggons getrieben wurden. Der Zweite Weltkrieg war da fast schon zu Ende. Am 30. April, am Tag als sich Adolf Hitler in Berlin das Leben nahm, sollten Soldaten der US-Armee München erreichen. Doch in der Nacht des 25. April setzte sich in Mühldorf noch ein grauenhafter Zug in Bewegung. Vollgepfercht mit bis auf die Knochen abgemagerten Häftlingen, viele von ihnen schwer krank. Ohne Wasser, ohne Essen, ohne Eimer, in die sie ihre Notdurft hätten verrichten können.

Der mehr als 600 Meter lange Zug kommt nur langsam voran. Es gibt Tieffliegerangriffe. Die Piloten wissen nicht, was das für ein Zug ist, sie vermuten einen Munitionstransport. Der Todeszug passiert die Bahnhöfe Dorfen, Thann-Matzbach, Walpertskirchen, Hörlkofen, Markt Schwaben und bliebt schließlich in Poing stehen. Die Lokomotive hat offenbar einen Maschinenschaden. Seit der Abfahrt in Mühldorf sind zwei Tage vergangen, es ist mittlerweile der 28. April 1945.

Dann heißt es auf einmal, der Krieg sei aus. SS-Männer öffnen die Waggons und ziehen sich selbst ihre Uniformen aus, um in zivile Kleidung zu schlüpfen. Die ausgehungerten Häftlinge verlassen die Waggons. Auch Leslie Schwartz, der damals 15-Jährige. Mit drei anderen rennt er in Richtung eines Bauernhofes in der Nähe. Als die Bäuerin ihn sieht, bricht sie in Tränen aus, setzt ihn an einen Tisch und gibt ihm zu trinken und zu essen. Dann stürmen Hitlerjungen das Haus, denn der Krieg ist eben doch noch nicht vorbei. Jugendliche schießen auf Jugendliche. Leslie Schwartz wird getroffen, hat einen Durchschuss am Hals. Er und seine Leidensgenossen werden zurück zum Todeszug getrieben. Andere werden erschossen oder erschlagen. Der Zug fährt wieder an und erreicht den Münchner Hauptbahnhof. Die Fahrt ist immer noch nicht zu Ende. Es geht weiter Richtung Süden. Der Zug wird noch mehrmals aus der Luft beschossen, Hunderte sterben. Erst in Tutzing werden Leslie Schwartz und andere Überlebende wie Max Mannheimer am 30. April 1945 befreit.

Leslie Schwartz, der die KZs Auschwitz und Mühldorf und den Todeszug überlebt hat, ist nach einer kurzen Zeit in Deutschland in die USA ausgewandert, wo er als Angestellter einer Versicherung arbeitete und 1972 eine eigene Druckerei in New York gründete. Seine 2007 zunächst in Dänemark erschienene Autobiografie wurden 2010 unter dem Titel "Durch die Hölle von Auschwitz und Dachau - Ein Junge erkämpft sein Überleben" auch in Deutschland herausgebracht. Im selben Jahr kam er nach Poing zur Einweihung des dortigen Erinnerungsdenkmals an den Mühldorfer Todeszug. Seitdem kommt er regelmäßig, um vor allem in Schulen aus seinem Leben zu berichten. 2013 wurde ihm das Bundesverdienstkreuz verliehen.

Nach der Gedenkfeier am Dorfener Bahnhof wird um 19.30 Uhr eine Veranstaltung mit Leslie Schwartz im Jakobmayer-Saal stattfinden. Der Abend ist wie die Gedenkfeier vom Kreisverband der Lehrergewerkschaft GEW organisiert. Der Historiker Heinz Mayer wird eine Einführung geben, danach wird Walter Steffens Dokumentarfilm "Endstation Seeshaupt" über den Mühldorfer Todeszug gezeigt. Anschließend findet ein Gespräch mit Leslie Schwartz statt. Der Eintritt ist frei.

Im Januar dieses Jahres hat die Bertelsmann-Stiftung eine Studie veröffentlicht, laut der 58 Prozent der Deutschen einen "Schlussstrich" unter die Geschichte der Judenvernichtung während der NS-Zeit ziehen wollen, also definitiv nicht mehr mit der Schoah konfrontiert werden möchten. Die Zahlen der Studie, die sicher nicht zufällig kurz vor dem 70. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz veröffentlich worden sind, sind allerdings keine Überraschung. Stephan Vopel, der Autor der Studie, weiß, dass der Anteil der "Schlussstrich"-Zieher seit mehr als 20 Jahren stabil ist. Eine andere Zahl hat sich jedoch erhöht. Deutlich mehr Deutsche als früher - in der aktuellen Studie waren es 38 Prozent - sind der Meinung, dass die Schoah auch für die Gegenwart relevant ist.

© SZ vom 20.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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