Arbeiterwohlfahrt:"Ärmel hochkrempeln und anpacken"

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Ein Gespräch mit einer Allrounderin: Nicole Schley hat überall auf der Welt gearbeitet, ist die erste SPD-Bürgermeisterin des Landkreises - und nun Chefin der oberbayerischen Arbeiterwohlfahrt

Interview von Tahir Chaudhry, Erding

- Seit zehn Jahren arbeitet sie als Media-Beraterin für die SZ in Erding; im März 2014 wurde sie mit 71,4 Prozent zur einzigen SPD-Bürgermeisterin im Landkreis gewählt; und nun wählte die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Oberbayern sie zu ihrer ersten Präsidentin: Die Erdinger SZ hat mit Nicole Schley über ihre neue Herausforderung, ihre Arbeit in der Gemeinde und ihre Karriere gesprochen.

SZ: Frau Schley, 2005 publizierten Sie das Buch "Angela Merkel. Deutschlands Zukunft ist weiblich". Heute ist der Einfluss von Frauen auf die Gesellschaft so groß wie nie. Mussten Sie sich schon mal anhören, eine "Quotenfrau" zu sein?

Nicole Schley: Noch nie. Ich bin der Meinung, dass Frauen nicht in einen Job kommen sollten, weil sie eine Frau sind, sondern weil sie qualifiziert sind. Dass Frauen genauso gut gebildet sind wie Männer und dass das Rollenbild, wonach sie nur Hausfrauen sein müssen, die auf ihre Kinder aufpassen, völlig überholt ist, davon bin ich überzeugt. Ich denke, dass Frauen insbesondere im sozialen Bereich gut aufgestellt sind, weil sie mehr Empathie auf die Waage bringen.

Mit Ihrem Studium der Politikwissenschaft sind Sie als Präsidentin bei der AWO Quereinsteigerin. Haben Sie keine Berührungsängste mit Ihrer neuen Funktion?

Nein, überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Das passt gut zu meiner Person und meinem Portfolio insgesamt. Ich bin ja die erste und einzige SPD-Bürgermeisterin im Landkreis, habe eine Nachbarschaftshilfe gegründet und führe einen relativ starken Helferkreis Asyl an. Die AWO passt mit ihren sozialen Projekten genau zu mir und bildet eine perfekte Ergänzung zu dem, was ich tagtäglich tue: mich sozial engagieren.

Wie sehen Ihre Aufgaben konkret aus?

Das Präsidium hat jetzt neu die Funktion eines Aufsichtsrats. Es legt in enger Abstimmung mit Bezirksgeschäftsführer Andreas Niedermeier die sozialpolitischen Leitlinien und die strategische Ausrichtung fest, also wollen wir weiterhin Senioreneinrichtungen und Kinderhäuser bauen und betreiben oder gehen wir mit unserem Wohngruppenkonzept neue Wege. Außerdem beruft das Präsidium den Vorstand ein und stimmt dem Wirtschaftsplan beziehungsweise dem Budget der AWO zu.

Was sehen Sie als Ihre größte zu bewältigende Herausforderung bei der AWO?

Einer der wichtigsten Punkte neben der Aufsichtsratsfunktion ist es, die Kreisverbände bei ihren wertvollen ehrenamtlichen Aufgaben zu unterstützen. Es geht darum, die besten Ideen und Leuchtturmprojekte stärker miteinander zu verknüpfen. Das ist die große Herausforderung - bei einem Unternehmen, das 3500 Mitarbeiter beschäftigt und 120 Millionen Euro Umsatz im Jahr macht.

120 Millionen. Was macht man mit so viel Geld?

Dieses Umsatzvolumen erwirtschaften die Einrichtungen der AWO. Die AWO Oberbayern ist Träger von 110 Einrichtungen: vom Kinderhort, der Tagesstätte und Krippe über Senioreneinrichtungen bis hin zur Unterbringung von seelisch behinderten Menschen. Als tarifgebundener Arbeitgeber sind 70 Prozent allein zur Deckung der Gehälter notwendig. Außerdem haben wir fünf große Bauprojekte. Es geht dabei um Ersatzbauten für Pflegeeinrichtungen, in die wir allein in diesem Jahr 18 Millionen Euro investieren werden.

Gibt es schon ein Projekt, das Ihnen besonders am Herzen liegt?

Ich bin ja noch am Anfang meiner Arbeit. Wahrscheinlich könnte ich nach meinen ersten hundert Tagen ‎mehr sagen. Ich finde sowohl den Kinderbereich wichtig und interessant als auch den Seniorenbereich; aber was mich am meisten reizt, weil wir ja in anderen Bereichen schon seit mehreren Jahren Profis sind, ist der Bereich der Betreuung seelisch kranker Menschen, was unsere Gesellschaft immer stärker fordert.

Schon Ihr Vater arbeitete für die AWO. Wie hat Sie das geprägt?

Seit über 40 Jahren ist er der Ortsvereinsvorsitzende bei uns zu Hause. Sehr früh bin ich damit in Berührung gekommen. Mit zwölf Jahren habe ich schon mit meinem Vater Care-Pakete für Bedürftige gepackt.‎ Mein Vater war schon immer ein sehr sozial engagierter Mann, in der SPD und bei der AWO, dessen Lebenswerk es immer war, denen zu helfen, die es nicht so gut haben. Das habe ich von klein auf in mir aufgenommen.

Würden Sie sagen, dass die Nächstenliebe heutzutage in unserer Gesellschaft zurückgegangen ist?

Wir haben sehr viele Egoisten, die nur darauf schauen, dass sie das, was sie erreicht, geerbt oder erarbeitet haben, für sich bewahren. Während der Migrationswelle habe ich aber auch beobachtet, dass sehr viele Menschen eine unglaubliche Hilfsbereitschaft gezeigt haben. Viele von ihnen wollten etwa vor Ort sofort helfen oder haben gesagt: Ich habe die Zeit nicht, aber Geld, das ich spenden möchte. Ich glaube, dass eines unserer wichtigen Ziele sein muss, dass die soziale Schere nicht zu weit auseinanderklafft. Deutschland ist derzeit, was das angeht, in zwei gleich große Teile gespalten.

Bei der Kommunalwahl 2014 holten Sie ganze 71,4 Prozent der Stimmen und wurden die erste SPD-Frau im Bürgermeisteramt in der Geschichte des Landkreises. Seitdem sind zwei Jahre vergangen, und damit auch Ihre Lust?

(lacht) Im Gegenteil. Das erste Jahr ist man eigentlich nur damit beschäftigt, aufzunehmen und zu lernen. Ob das die Netzverstärkung des Elektrizitätswerks, der Neubau von Straßen, der zweigleisige Ausbau der Bahnstrecke nach Mühldorf oder die Bewahrung eines Wasserschutzgebietes ist. Das sind unglaubliche Mengen von Informationen, die auf einen einströmen. Bis man sich da vollkommen auskennt, vergeht viel Zeit. Dann erst beginnt das Lenken und Gestalten. Ich bin voller Elan und liebe meine Arbeit.

Die SPD befindet sich heute in einer Krise. Immer mehr Wähler wandern ab. Mit Ihrem Beispiel zeigten Sie, dass es auch anders geht. Welchen Rat würden Sie Ihrer Partei als ehemalige Politikberaterin geben?

Die SPD sollte sich wieder mehr auf ihre Kernthemen konzentrieren, anstatt zu versuchen, eine Partei der Mitte zu sein und überall mitzuschwimmen. Wir haben große Stärken und unser Programm ist gut, aber das Mainstream-Getue regt mich total auf. Wenn wir, wie die AWO, uns nur auf unsere Stärken besinnen würden, würde uns das besser stehen und sicher auch wieder mehr Zuspruch bringen. Da gäbe es genügend zu tun: Familien zu unterstützen, Wiedereingliederung von Arbeitslosen oder auffällig gewordenen Jugendlichen, eine gute Arbeitsmarktpolitik. Das waren immer Themen, die unsere Partei besetzt hat. Man müsste zurück zu ihnen und ein klareres Profil herausarbeiten.

Sie waren zehn Jahre weltpolitisch unterwegs: München, Berlin, Brüssel und Washington. Wie kamen Sie dazu, in die Kommunalpolitik zu wechseln?

Als ich in der Beratung unterwegs war, war es schwierig, sich politisch zu engagieren. Weil meine Arbeitgeber so unterschiedlich waren: vom Weißen Haus über die Europäischen Kommission bis hin zu den Regierungen Kohl und Schröder. Da darf man sich natürlich nicht parteipolitisch festlegen und muss immer offen bleiben. Als ich dann aufgehört habe, wollte ich mich endlich persönlich engagieren und das hat dann erfreulicherweise in der Gemeinde geklappt.

Was empfinden Sie als wichtigste, was Sie in der Zeit als Bürgermeisterin von Ottenhofen gelernt haben?

Geduld. Ich habe ein Tempo im Leben, mit dem die wenigsten Menschen mithalten können. Verwaltungen können da gleich dreimal nicht mithalten (lacht). Eine Verwaltung hat eine eigene Geschwindigkeit, weil gewisse Wege eingehalten, Experten befragt und Behörden einbezogen werden müssen. Damit musste ich umgehen lernen. Auch musste ich Geduld im Umgang mit den Bürgern lernen. Manchmal denkt man: Ach, das ist jetzt aber wirklich bisschen kleinlich, aber das sind eben die Sorgen der Bürger, denen man Gehör schenken, sie verstehen muss, um sie zu beseitigen. Ich war nie ein besonders geduldiger Mensch. Heute ist das anders.

Ist die Arbeit für die AWO ein Ausgleich zu den langwierigen Entwicklungsprozessen in der Gemeinde?

Bei meinem Antrittsbesuch in der letzten Woche bin ich die vier Stockwerke des Gebäudes durchgelaufen, habe allen Mitarbeitern die Hände geschüttelt und mich vorgestellt. Mir sind dabei die Professionalität und eine unglaubliche Energie aufgefallen, die in der AWO steckt. Das ist also tatsächlich ein Ausgleich für mich. Ich kann hier die Ärmel hochkrempeln und anpacken.

© SZ vom 06.08.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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