Engpass:Abgewiesen

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Nicht nur für eine Eins-zu-eins-Betreuung bei der Geburt fehlt das Klinikpersonal, manchmal gibt es gar keinen Platz

Von Silke Lode, München

An manchen Tagen geht gar nichts mehr. Dann sind über Stunden alle Kreißsäle in der Stadt belegt, Schwangere werden an den Kliniken abgewiesen. Besonders gefürchtet sind Verlegungen, die nach Berichten von Betroffenen und Hebammen zum Teil sogar während der Wehen stattfinden. In Einzelfällen, so steht es in einem Bericht des Gesundheitsreferats (RGU) vom vergangenen Sommer, seien Schwangere, denen eine Frühgeburt drohte, sogar per Hubschrauber nach Frankfurt oder Nürnberg verlegt worden.

Seit 2007 bricht München ein ums andere Jahr seinen eigenen Geburtenrekord. 22 775 Kinder kamen 2015 in der Landeshauptstadt auf die Welt, das sind die aktuellsten verlässlichen Zahlen, die es gibt. Als "erfreulich", bezeichnet Gesundheitsreferentin Stephanie Jacobs die Situation. Einerseits. Andererseits aber stelle der Baby-Boom "das Versorgungssystem vor enorme Herausforderungen".

Das ist eine recht freundliche Beschreibung für ein System am Anschlag. Die Folgen treffen neben dem Personal vor allem die schwangeren Frauen. Von "800 Verlegungen vor oder während der Geburt" im Jahr 2014 berichtete das Gesundheitsreferat im Juli den Stadträten. Heute heißt es aus der Behörde, diese seien zumindest nicht in jedem Fall akut gewesen. "Die Zahl schließt auch Frauen ein, die bei der Anmeldung im vierten Monat keinen Platz mehr in ihrer Wunschklinik bekommen", sagt Sprecher Alois Maderspacher.

Die Engpässe machen sich auch bei der Betreuung bemerkbar. Laut Hebammenverband ist eine Betreuung von drei laufenden Geburten durch eine einzige Hebamme Normalzustand in den meisten Münchner Kliniken. Das RGU schilderte dem Stadtrat die Situation so: "Die stationäre Geburtshilfe in München ist unter anderem charakterisiert durch das Fehlen von Angeboten der Eins-zu-Eins-Betreuung." Deshalb könne "die für einen normalen Geburtsverlauf hilfreiche persönliche Unterstützung nicht zur Verfügung stehen". Beschrieben werden diese Qualitätsdefizite in Zusammenhang mit der hohen Kaiserschnittrate: Mit 35,5 Prozent lagen die elf Münchner Geburtskliniken im Jahr 2014 vier Prozent über dem Bundesdurchschnitt - und weitaus höher als die 20-Prozent-Rate, die die Weltgesundheitsorganisation für Industrienationen empfiehlt.

Kernproblem der Geburtshilfe ist der Personalmangel bei den Hebammen und den Kinderkrankenschwestern in der Neonatologie - also der Frühchen-Versorgung. Die Folgen sind immer wieder unmittelbar spürbar: "Vorwiegend auf Grund von fehlenden Hebammen, aber auch von neonatologischen Fachkräften, melden sich die Kliniken teilweise über Stunden bei der Rettungsleitstelle ab", heißt es im RGU-Bericht vom Juli 2016. In der Kettenreaktion kam es auch zu den Verlegungen per Hubschrauber.

Die Geburtshilfe im Klinikum Neuperlach wird nach Harlaching verlegt. Das ist Teil des Sanierungskonzepts. (Foto: oh)

Der Hebammenmangel ist schon seit Jahren Thema. Die meisten Münchner Kliniken arbeiten inzwischen mit einem Belegsystem, das für die Hebammen zumindest finanziell attraktiv ist. "Für viele Hebammen steht das aber nicht im Vordergrund, sie wollen gute Geburtshilfe machen und nicht drei Frauen gleichzeitig betreuen", sagt Astrid Giesen, Vorsitzende des Hebammenverbands. Als Musterbeispiel nennt sie das Klinikum Neuperlach - laut RGU die einzige geburtshilfliche Abteilung der Stadt, die ausschließlich mit angestellten Hebammen arbeitet und trotzdem nicht über unbesetzte Stellen klagt.

Das Dilemma: Neuperlach ist mit 1300 Geburten pro Jahr unrentabel, das Sanierungskonzept für das Stadtklinikum sieht eine Verlegung der Abteilung nach Harlaching in rund fünf Jahren vor. Zugleich will der Konzern seine Gesamtkapazitäten von derzeit 6000 Geburten pro Jahr auf 7500 massiv ausbauen. Wenn nicht zumindest die Hebammen aus Neuperlach gehalten werden können, dürfte das kaum möglich sein. Giesen hat zwar Verständnis für die wirtschaftlichen Zwänge, "um eine Zentralisierung kommt man in den Städten nicht herum". Sie fordert aber, zumindest den Geist von Neuperlach zu erhalten und den Neubau in Harlaching von Anfang an anders zu planen: "Neben der Hightech-Medizin muss es einen hebammengeleiteten Kreißsaal geben." Je nach individuellem Risiko könne dann entschieden werden, in welcher Unterabteilung eine Frau besser aufgehoben ist. Für Hebammen könne man so attraktive Arbeitsplätze schaffen - und zugleich viel Geld sparen.

Im RGU ist man sich der prekären Lage der Geburtshilfe bewusst, mit Fachgesprächen, Runden Tischen und Klinikbefragungen wird nach Lösungen gesucht. Stadträtinnen wie Eva Caim (Bayernpartei) oder Lydia Dietrich (Grüne) machen seit Jahren immer wieder Druck. Vereinzelt gibt es kleine Lichtblicke: Die elf Kliniken haben sich auf ein Verfahren geeinigt, um Verlegungen besser zu koordinieren. Die Stadt hat den Umzug des Geburtshauses mitfinanziert und ein Existenzgründungsprogramm für Hebammen geschaffen. Aber der stete Zuzug und die Vorgaben des Gesundheitssystems schaffen immer höhere Hürden. Als wäre das Problem nicht längst groß genug.

© SZ vom 11.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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