Engagement gegen Aids:Kondome statt Weißwürste

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"Ich habe alles ohne einen Pfennig Schmiergeld umgesetzt", sagt Karl Walter. Er bekam als Anerkennung eine Keule, Schlagwerkzeug der Kosaken. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Aufklärung an Schulen, Ausbildung von Ärzten und Schwestern: Karl Walter, Leiter des Bayerischen Hauses in Odessa, hat ein Aidshilfe-Netzwerk aufgebaut

Von Gerhard Fischer, Karlsfeld

Als Karl Walter um 10 Uhr vormittags die Tür öffnet, trägt er ein Sakko, ein Hemd und einen Pullunder, als würde er ausgehen. Es gibt ja diese älteren Herren, für die es ein Zeichen von Respekt ist, ihre Gäste fein gekleidet zu empfangen. Bei Walter könnte hinzukommen, dass er Offizier gewesen ist. Da lumpt man nicht.

Er führt ins Haus. Im Wohnzimmer liegt eine Keule auf dem Tisch. "Das war ein Schlagwerkzeug der Kosaken", sagt Walter. Er habe die Keule wegen seines Einsatzes für die Aidshilfe in der Ukraine geschenkt bekommen. Damit ist man sofort im Thema: Karl Walter, 74, hat als Berater des Bayerischen Hauses in Odessa ein Aidshilfe-Netzwerk etabliert. Eine tolle Sache ist das, und bitter nötig war das, denn die Aids-Infektionsrate in der Ukraine ist die höchste in Europa. "Bei 15- bis 49-Jährigen beträgt sie 2,8 Prozent", sagt Walter, "in Deutschland liegt sie bei 0,02 Prozent."

Das Bayerische Haus, bei dem heute 50 ukrainische Festangestellte und 45 ukrainische Honorarkräfte arbeiten, gibt es seit 1993. Zunächst sollte es der kleinen deutschen Minderheit in Odessa eine kulturelle Heimat bieten; doch diese Aufgabe war dem bayerischen Sozialministerium, damals Träger des Hauses, bald zu wenig. Und hier kommt Walter ins Spiel. "Im Jahr 2000 wurde ich gefragt, ob ich das Bayerische Haus evaluieren könne", sagt er. Walter zögerte erst. Er lacht. "Ich sah mich schon Weißwürste in Odessa verkaufen."

Tatsächlich wollte das Haus künftig "gesamtgesellschaftlich und wohltätig wirken", sagt er, "Sprache, Kultur, Soziales, Bildung, Wirtschaft". Walter, der bei der Bundeswehr vorzeitig in den Ruhestand gegangen war, sagte zu, arbeitete als Berater - und wurde mit einem gewaltigen Problem konfrontiert: der hohen Aids-Rate.

In der Region Odessa, die so groß ist wie die Niederlande, gibt es fünf Hafenstädte. "Da ist Prostitution sehr gefragt", sagt Walter. "Nach Umfragen legen 85 Prozent der Seeleute wert darauf, und 70 Prozent von ihnen wollen keinen safer sex." Zudem seien 67 Prozent der Prostituierten intravenöse Drogennutzer - und es gebe wenige sterile Bestecke in der Ukraine.

Die Behörden wollten sich lange nicht damit beschäftigen. "Aids wurde auf diese Randgruppen reduziert - es gab keine Aufklärungsarbeit", sagt Walter. "Dabei war Aids längst in die Bevölkerung hinein explodiert." Schuld sei die soziale Situation. Es gebe 30 Prozent arme Menschen. "Vor allem junge Leute fliehen in Drogen, Alkohol, Promiskuität oder Prostitution."

2005 wurde Karl Walter vom stellvertretenden Gouverneur der Region Odessa gebeten, bei der Aids-Bekämpfung zu helfen. "Ich habe ihm gesagt, ich sei kein Arzt, aber Manager - und ich traue mir zu, Experten und Ressourcen zu finden, um die prekäre Situation abzumildern", erzählt Walter. Zunächst ging es um Aids-Aufklärung an den Schulen. Er schaut auf die Blätter, die auf dem Tisch liegen. "In der Region Odessa leben 900 000 Schüler im Alter von 13 bis 17 Jahren", sagt er.

Walter blickt wieder auf und sagt: "Aber es wurde ein sehr steiniger Weg."

Die Behörden verschleppten Dinge, weil Karl Walter nicht bereit war, für ihre Dienste zu bezahlen. "Ich habe alles ohne einen Pfennig Schmiergeld umgesetzt", sagt er. Auch die Lehrer blockten ab. Walter lud sie ins Bayerische Haus, wo sie von westlichen Experten geschult werden sollten. "Als sie ankamen, sagten die Lehrer, sie würden schon alles wissen", erzählt er, "aber wir haben einen Test gemacht und es kam sich heraus: Die wussten nichts über Aids."

Karl Walter macht eine Kunstpause. "Am zweiten Tag haben sie sich dann entschuldigt", sagt er. "Und am fünften Tag haben sie gesagt: Wir brauchen das, wir müssen das an die Kinder weitergeben."

Sexuelle Aufklärung sei bis dahin "ein Tabuthema" an den Schulen gewesen. "Da ist ein Lehrer mit 50 noch rot angelaufen, als er bei uns im Seminar ein Kondom über eine Penis-Attrappe zog." Walter lächelt.

Sie bildeten bis 2007 insgesamt 4000 Lehrer aus. Aids-Aufklärung wurde Pflichtprogramm an den Schulen in Odessa - und danach in der ganzen Ukraine.

Weil das Bayerische Haus und Karl Walter es vorgemacht hatten?

Walter lächelt und blickt auf den Tisch. "Das will ich jetzt nicht für mich beanspruchen", sagt er. Vielleicht ist es so. Vielleicht nicht. In jedem Fall will er nicht angeben.

"Nach dem Präventionsbereich begannen wir mit dem Aufbau eines Anti-Aids-Netzwerks", fährt Walter fort. "Wir haben für die Betroffenen und ihre Angehörigen eine anonyme Telefon-Beratungsstelle eingerichtet." Und von dort wurden sie weiterverwiesen - etwa an Sozialzentren, wo Hilfsmaßnahmen eingeleitet werden konnten. 1500 Sozialarbeiter, 1200 Ärzte und 1200 Krankenschwestern haben sie für diese Hilfsmaßnahmen ausgebildet.

Es war eine intensive Zeit, Karl Walter war bis zu 150 Tage pro Jahr in Odessa; heute sind es noch 50 bis 60.

Natürlich hätte er das alles nicht ohne Sponsoren geschafft. "Viele kirchliche Organisationen halfen", sagt Walter, etwa die evangelische Landeskirche Bayern, "Hoffnung für Osteuropa" oder "Brot für die Welt".

Walter redet ausführlich über seine Arbeit. Er tut das auch, wenn er privat unterwegs ist, bei Freunden, auf Festen. "Meine Frau haut mir immer gegen das Schienbein, dass ich aufhören soll", sagt er und lacht. Er führt den Stoß mit dem Bein vor.

Dann blättert er wieder in den Papieren. "Die Telefonberatungsstellen existieren seit 2009", liest er vor, "bis 2016 wurden 30 000 Beratungen durchgeführt." Infektionsraten und Sterbefälle gingen zurück.

2010 wurde Walter Leiter des Bayerischen Hauses. 2011 zog sich das Sozialministerium zurück, als neuer Träger gründete sich ein Förderkreis aus Unternehmern, Wissenschaftlern und Leuten aus der Kultur. Walter arbeitet seither ehrenamtlich.

Zwei Stunden sind vergangen. Karl Walter hat viel über Aids gesprochen, aber wenig über sich selbst. Natürlich sagt die Arbeit in Odessa etwas über ihn aus: Er ist ein Anpacker, ein Helfer. Aber wo kommt das her? Wo kommt er her?

Karl Walter ist in einem Dorf bei Schwäbisch Hall geboren. Er lernte Automechaniker, ging dann als Wehrpflichtiger zur Luftwaffe, machte bei der Bundeswehr das Abitur, arbeitete als Berufsoffizier und zog 1989 nach Karlsfeld, als er in Bayern stationiert war. Mit 51 Jahren ging er in den Ruhestand, wechselte in die Wirtschaft und arbeitete als Unternehmensberater. Bis das Angebot kam, nach Odessa zu gehen.

Walter hört kurz auf zu reden. Er ist wieder am Anfang der Erzählung angekommen - im Jahr 2000, als alles begann. Es könnte ein schönes Ende des Gesprächs sein. Aber natürlich muss man noch darüber sprechen, wie der Krieg die Arbeit beeinflusst; und darüber, was neben der Aidshilfe vom Bayerischen Haus geleistet wird: über die Sprachenschule, in der 2016 etwa 1500 Studenten deutsch lernten, über Lesungen und Konzerte - und vor allem über die wirtschaftlichen Anschubhilfen, etwa über den Aufbau einer klein- und mittelständischen Unternehmenskultur. Walter zitiert aus Statistiken. Es bewegt sich viel. Und er könnte noch so viel mehr erzählen.

Und der Krieg?

"Wir sind im Süden der Ukraine und deshalb ein wenig weg vom Kriegsgebiet im Osten", sagt Walter. "Aber im Mai 2015 war der Krieg hier sehr nah." Er war zu dieser Zeit nicht in Odessa. Er gibt bloß wieder, was ihm erzählt wurde: Am 1. Mai seien junge Männer "mit strengem militärischen Haarschnitt und Tarnanzügen" in der Stadt gewesen, sagt Walter. "Das waren Soldaten von der russischen Armee." Diese Männer stießen auf pro-ukrainische Kräfte, am 1. Mai gab es vier Tote, am 2. Mai 48 Tote. Dann wurde es ruhiger. Putins Versuch, auch in Odessa Fuß zu fassen, scheiterte - offenbar am Freiheitswillen der Einheimischen. "Die Odessiter fühlen sich als Ukrainer, sie wollen die europäischen Werte leben und Russland als Freund haben, aber nicht als Besatzer." Die Russen hatten mit mehr Mitläufern gerechnet. Dann wäre ihr Plan vielleicht aufgegangen.

Und das Bayerische Haus hätte 2015 schließen müssen.

© SZ vom 23.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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