Einzug ins Halbfinale:Trend zur Zweitfahne

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Am Tag nach dem Elfer-Drama ruht die Stadt aus. Wer mit bloß einem schwarz-rot-goldenen Tuch am Auto herumkurvt, könnte inzwischen in den Verdacht kommen, kein echter Fan zu sein. Der Trend geht zur Zweitfahne. Und so flattert es immer öfter doppelt auf Münchens Straßen, und bei manchem Türken auch dreifach, inklusive Halbmond.

Bernd Kastner

Integration im Zeichen des Fußballs. Die Münchner rüsten fantechnisch auf, ansonsten aber ist es, als wolle München mal kurz durchatmen. Am Tag nach dem Triumph der schwarz-weißen Fußballer ruht sich die Stadt aus, in Erwartung von noch Größerem.

Auch gegen drei, vier, fünf Fahnen hat kaum einer was. (Foto: Foto: Falterer)

In einem Café am Gärtnerplatz liest ein Mann Zeitung, "Jetzt oder nie" ist der Artikel in großen Lettern überschrieben. Wohl wahr, denkt man, und schaut noch mal genau hin: Der Mann liest nicht den Sport-, sondern den Wirtschaftsteil.

Die Italiener holen auf - fahnenmäßig

Andere dagegen sind in die Sportseiten vertieft, aber irgendwie scheinen sie schon genug über den Elfmeterkrimi gelesen zu haben. Jan Ullrich, der mutmaßliche Dopingsünder und Ex-Nationalheld, ist interessanter. Da radelt ein Vater mit einem Kinderanhänger vorbei, und weil dieser keine Fensterscheibe zum Fahneneinklemmen hat, nehmen sie die obligatorische Fahnenstange des Anhängers - für die italienischen Farben.

Überhaupt, alles dies wirkt ein wenig beunruhigend für einen deutschen Fußballpatrioten. Die Italiener holen auf, zumindest in der Zahl der Fahnen. Das Glockenbachviertel ist noch überwiegend schwarz und rot und gold, doch je weiter man in Richtung Schlachthofviertel kommt, desto grün-weiß-roter wird es. In der Zenettistraße leben offenbar nur Tifosi.

Fernsehgeräte brüllen auf dem Gehsteig

"Nein!" Im Dreimühlenviertel plärrt es aus einem Fernsehgerät. "Riesenüberraschung!" Ein Bildschirm und noch ein Bildschirm stehen im "Valentin" auf dem Fußweg, ganz oben auf einem Stapel leerer Bierkisten, der linke mit Franziskaner-Unterbau, der rechte auf einem Beck's-Turm, und aus dem Gerät brüllt einer heraus: "Ein Deutscher ganz vorne dabei!"

Einer? Wir sind doch elf! Egal, es hört sowieso keiner zu, obwohl der Wirt die Stühle auf Kunstrasen gestellt hat. Im Fernsehen schießen sie ja auch keine Elfmeter, sie radeln nur, in Frankreich. "Warten wir's ab", sagt der Fernseher.

Würden einen nicht an jeder Ecke von den Zeitungskästen Worte wie "Danke, Lehmann" und "Ihr seid Helden" entgegenspringen, man könnte glatt glauben, dieser Tag sei ein ganz normaler, entspannter Sommertag. Auf dem Spielplatz am Roecklplatz spielt ein Mädchen im Italien-Dress Fußball. Sie schlägt ein Luftloch.

Als die Schatten schon ein wenig länger sind, verlassen sieben Männer in der Sonnenstraße ihr Auto. Es sind keine normale Männer, sie tragen Trikots, auf denen eine 9 oder eine 10 prangen und Namen wie Rooney oder Owen. Und sie haben auch kein normales Auto geparkt, sondern ihren WM-Bus.

"We are sex hungry"

Der hat das Lenkrad rechts, auf dem Fahrersitz liegt eine geöffnete Chipspackung, die Ladefläche, genutzt als Schlafplatz, ist mit Vorhängen vor Blicken geschützt, das Rücklicht ist mit Klebeband fixiert. Auf dem weißen Gefährt haben viele Menschen viele Botschaften mit schwarzem Filzstift hinterlassen, darunter July und Carola.

"We are sex hungry", steht da auch noch geschrieben, anderes ist nicht zitierfähig. Es ist kurz vor fünf, gleich spielt England, und mit ein paar Bierflaschen ziehen die Boys los zum nächsten Großbildschirm. Auf ihrem Bus haben sie ihre bisherigen WM-Stationen notiert, Bradford, Hull, Amsterdam, Arnheim, Frankfurt, Cologne, Stuttgart, Munich, und die englischen Ergebnisse: 1:0, 2:0, 2:2, 1:0. "We go to Berlin", steht da auch noch. Drei Stunden später haben sie vielleicht 1:3 drunter gekritzelt und: We're going home.

© SZ vom 3.7.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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