Von Udo Jürgens bis Lady Gaga:Singen frei Schnauze

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Der Musiker und Autor Carsten Gerlitz aus Berlin gibt in Vaterstetten einen Popchor-Workshop der Extraklasse

Von Pauline Weindorf

"Was machst du wenn du eine Oma überfahren hast? - Du hältst an, steigst aus, und hilfst der Dame! Du legst NICHT den Rückwärtsgang ein und fährst nochmal drüber!" Das habe ihm seine ehemalige Klavierlehrerin einst zum Thema "einen Fehler wiederholen" gesagt, erzählt Carsten Gerlitz - und lässt bereits mit dieser kleinen Anekdote seinen Charakter durchblitzen: Er ist direkt, ehrlich, humorvoll und unverkrampft, menschlich nah und trotz seines beruflichen Erfolgs am Boden geblieben. Auf Einladung des Chorverbands Region Münchener Osten ist der erfahrene Musiker aus Berlin nach Baldham gekommen, um dort im Pfarrsaal Maria König einen Popchor-Workshop der Sonderklasse zu geben.

Gewürzt mit viel Herzlichkeit und Spontaneität vermittelt Gerlitz einem bunten Sängerhaufen dabei seine wichtigsten Grundsätze, ganz direkt durch Erarbeitung einiger seiner eigenen Arrangements. Die Gruppe besteht aus Sängern, Chorsängern und Chorleitern. Laien und Profis kommen hier zusammen; schließlich hat man mit Carsten Gerlitz einen in der Szene bekannten Experten vor sich. Vor allem mit seinen Klavier- und Chorarrangements, erschienen in mehr als 250 Publikationen, wurde der Berliner bekannt. 1985 gründet Gerlitz den "angeblich ältesten Popchor Deutschlands", den er seitdem leitet, und der neben der Veröffentlichung mehrerer CDs den Berliner Kulturpreis "Bonzo" gewann. Er arbeitet fürs TV und an vielen Theatern in Deutschland und der Schweiz, leitete Shows in Berlin, Nürnberg, Stuttgart, München und Wien. Gerlitz arrangierte unter anderem für Max Raabe, Reinhard Mey, Ute Lemper, Ralf Siegel, Voxxclub, diverse Orchester und Chöre sowie die Dresdner Philharmonie. Außerdem publizierte er zwei Bücher zum Thema Popchorleitung.

Carsten Gerlitz beweist, dass er ebenso spontan wie kompetent ist. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

In dem sechstündigen Workshop ist Gerlitz stets präsent und dennoch entspannt zu erleben: begleitend am Klavier, beim Beatboxen, um rhythmische Elemente anzuleiten, wild gestikulierend und übertrieben deutlich darstellend, wie etwas NICHT geht. Auch seine Arrangement setellt er mit kleinen, unterhaltsamen Geschichten vor. So erfährt die geneigte Zuhörerschaft beispielsweise, dass Ringo Starr bei dem Beatles-Song "I get by with a little help from my friends" ausnahmsweise mal singen durfte, obwohl das als Schlagzeuger so gar nicht sein Gebiet war. Die Melodie sei daher so geschrieben, dass jeder sie singen könne, erklärt Gerlitz. Die erste Zeile lautete ursprünglich "What would you do if I sang out of tune? Would you stand up and throw tomatoes at me?" Ein Glück nur, dass es nicht dabei geblieben ist...

1985 gründet Gerlitz den "angeblich ältesten Popchor Deutschlands", den er seitdem leitet. (Foto: Peter Hinz-Rosin)

Überraschend, wie Gerlitz allen Teilnehmern in kürzester Zeit seine anspruchsvollen Arrangements nahebringt. Die sechs erarbeiteten Stücke unterscheiden sich stilistisch stark: vom swingenden "Wenn ich vergnügt bin, muss ich singen" der Comedian Harmonists über eine Shuffle-Version von Stings "Fragile" mit schwierigen Sechzehntel-Rhythmen bis hin zur eingängigen Pop-Ballade "In the Shallow" von Lady Gaga. Die Herangehensweise an die Titel unterscheidet sich hauptsächlich darin, mit welchem Part des Songs die Probenarbeit beginnt. Über einen gemeinsam gestampften Puls wird das Lied zunächst in verteilten Stimmen rhythmisch gesprochen. Schon dabei verweist Gerlitz auf Stimmklang und Ausdruck, denn im Pop gilt: "Wir singen so, wie wir sprechen würden, um die im Lied zu transportierende Geschichte zu erzählen." Erst danach lernen die einzelnen Stimmen ihre Melodie kennen. Ein einfaches und effektives Konzept!

In der Ausarbeitung dürfen dann die Sopranistinnen hauchen wie Helene Fischer, die Tenöre singen wie Till Schweiger spricht und die Bässe sollen sich klanglich in die Steinzeit "zum Feuer machen verkrümeln". Die klare Vorgabe von Klangvorstellungen und deren bildhafte Darstellung schlägt zwei Fliegen mit einer Klappe: Die Teilnehmer kringeln sich vor Lachen - und wissen trotzdem sehr schnell, was von ihnen erwartet wird. Bei so viel Fröhlichkeit keimen freilich immer wieder kleine Unruhen auf, die der Leiter aber so liebevoll wie schnell unterbindet: "So ein ruhiger Chor ist aber angenehm!" oder schnoddrig-berlinerisch "jezze is aber mal jut!" Die gescholtenen Lehrlinge zwischen dreißig und sechzig Jahren machen dann rasch wieder ganz brav mit.

Auf Wunsch der Teilnehmer streut Gerlitz auch immer wieder hilfreiche Tipps für Chorleiter ein - so spontan geht das nur mit viel Erfahrung. Strukturiert und klar fasst er seine wichtigsten Erkenntnisse zur Arbeit mit Vokal-Arrangements, aber auch zur Rolle des Chorleiters im Popchor zusammen. Im Gegensatz zu klassischen Chören tritt der Leiter hier nämlich in den Hintergrund. Ganz klar, der Chor ist der Star!

Am Ende verlassen die Sängerinnen und Sänger den Raum lebhaft diskutierend. Hier und da summt jemand die Melodie des letzten Songs, "Die Welt braucht Lieder" von Udo Jürgens. Auch Gerlitz findet, dass es Lieder braucht - mit starkem Text und musikalischer Ausdruckskraft. Dass diese dann unter die Leute kommen, ist ihm Berufung und Herzensanliegen.

© SZ vom 25.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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