Themenwoche Demenz:Kampf gegen die Institutionen

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Früher beherrschte Helga Rohra neun Sprachen, sie arbeitete als Simultandolmetscherin. Heute kann sie das nicht mehr - aber andere berufliche Perspektiven würden ihr auch nicht geboten, kritisiert sie. (Foto: Christian Endt)

Die Autorin Helga Rohra ist 2009 an Demenz erkrankt. In Ebersberg spricht sie über die Fähigkeiten, die Betroffene oft noch besitzen - und fordert eine Inklusion dieser Menschen

Von Johanna Feckl, Ebersberg

"Die Demenz ist für mich eine Dame, die ständig bei mir ist. Ich muss mit ihr leben." Mit starken Worten eröffnet die Autorin und Demenz-Aktivistin Helga Rohra am Montagabend die Woche zum Thema Demenz im Landkreis. Seit 2009, da war sie 54 Jahre alt, lebt sie mit der Diagnose Lewy-Körperchen-Demenz. Im Vergleich zu Alzheimer oder einer vaskulären Demenz ist diese Variante der Krankheit selten. 2015 gründete Rohra den Verein "Trotz Demenz", mit dem sie für eine "potenzialorientierte Integration", wie sie es nennt, von Demenzkranken einsteht: "Jeder macht so viel, wie er noch kann." Rohra geht es in ihrem Vortrag und in der anschließenden Diskussion um ein Miteinbeziehen von dementen Menschen; darum, dass es keine Veranstaltung über Demenz geben sollte, die kein Betroffener mitgestaltet hat. Und das aus einem einfachen Grund: "Weil wir dazugehören!"

Nach Grußworten von Jennifer Becker, Geschäftsführerin des Katholischen Kreisbildungswerks, Landrat Robert Niedergesäß und des Kreisgeschäftsführers der Caritas Andreas Bohnert tritt Helga Rohra hinter das Rednerpult. Dort bleibt sie jedoch nicht lange. Sie greift sich das Mikrofon vom Ständer und stellt sich schräg vor das Pult. Einen Perspektivwechsel: Das ist es, was sie erreichen möchte. "Bei Demenz denken Sie doch sofort an einen hochbetagten Menschen mit Alzheimer", behauptet sie und richtet sich damit suggestiv an das Publikum im Hermann-Beham-Saal des Landratsamtes. "Damit wollen wir nicht in Verbindung gebracht werden!" Wir - damit meint sie Demenzpatienten wie sich, die in jüngeren Jahren erkranken, noch mitten im Berufsleben stehend; Menschen, die trotz der Diagnose immer noch viele Fähigkeiten und Ressourcen besitzen, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Nur eben anders als zuvor.

Laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind weniger als zwei Prozent aller Demenzerkrankten in Deutschland unter 65 Jahre alt. Im Alter zwischen 45 und 65 Jahren sind das ungefähr 20 000 bis 24 000 Menschen. In diesen Altersgruppen sind seltenere Demenzformen überdurchschnittlich häufig vertreten, wie zum Beispiel die Frontotemporale Demenz. Die Gedächtnisleistung ist hier zu Beginn meist ungetrübt, die Symptome betreffen eher Wesensveränderungen. Auch bei Helga Rohra hält sich der Gedächtnisschwund noch in Grenzen. Wie es bei einer Lewy-Körperchen-Demenz typisch ist, leidet die 63-Jährige an Halluzinationen. "Dort, wo mein Blick hinfällt, sehe ich mich als kleines Mädchen herumlaufen", erklärt sie. Mittlerweile sei das fast den gesamten Tag über so. Manchmal sehe sie auch ihre Geburt. Daneben hat die ehemalige Simultandolmetscherin ihre Sprachfähigkeiten verloren - bis auf Deutsch und Englisch, ihre Muttersprachen. Früher beherrschte sie neun Sprachen.

Davon abgesehen nennt Helga Rohra keine größeren oder gar gravierenden Einschränkungen, die die Krankheit bislang bei ihr hinterlassen hat. Dafür trainiert sie aber auch hart. Ihre Vortragsnotizen schreibt sie per Hand - arbeiten am PC kann sie nicht mehr. Ihre Aufzeichnungen schreibt sie immer und immer wieder ab, damit sich die Worte und die Reihenfolge der Sätze einprägen - zehn Abschriften seien da normal. Trotzdem kommt es vor, dass sie vergisst, was sie als nächstes sagen wollte. So passiert ihr das auch beim Vortrag im Ebersberger Landratsamt. Ein Geheimnis macht sie daraus nicht. Stattdessen tritt sie einen Schritt zur Seite an den großen Tisch heran und sucht dort in ihren Unterlagen nach der richtigen Seite. "Man darf sich nicht schämen", kommentiert sie. "Es ist nun einmal so, wie es ist."

Trotz all ihrer Fähigkeiten muss Helga Rohra von Arbeitslosengeld II leben. Sämtliche Einnahmen aus ihren Vorträgen fließen als Spenden in ihren Verein. "Nur Demenz zu haben, das bedeutet, dass man keine Erwerbsminderungsrente bekommt", sagt sie. Sie berichtet von ihren Erlebnissen, als sie nach ihrer Diagnose beim Jobcenter war. Berufliche Perspektiven, die sich mit ihrer Krankheit vereinbaren ließen, deshalb war sie dort. Bekommen hat sie nichts. "Niemand hat sich für mich eingesetzt." Rohra beklagt, dass davon ausgegangen wird, mit einer Demenz könne man gar nichts mehr. Ein Schwerbehindertenausweis wird den Betroffenen aber auch nicht zugestanden. "Da erwarte ich, dass meine Gesellschaft etwas unternimmt!"

Dass es durchaus anders geht, das sieht die 63-Jährige immer wieder auf ihren Auslandsaufenthalten - denn auch dort ist sie als Demenz-Aktivistin tätig. So gebe es in Amerika oder Australien viele Läden, die mit einem Schild auf ihre Demenzfreundlichkeit hinweisen. Auch sei es in vielen Ländern üblich, dass es in Geschäften eine Kasse speziell für Menschen mit Behinderung oder Demenz gibt. "Dort geht dann alles etwas langsamer." Für Frühbetroffene habe Deutschland keinerlei Inklusionsmöglichkeiten, das betont Rohra immer wieder. Dabei gibt sie zu bedenken, dass viele neue Berufe entstehen würden, wenn man die verbliebenen Fähigkeiten der Betroffenen nur ernst nähme. Es ist ein Kampf, den Helga Rohra führt. Das macht sie im Rahmen ihres Vortrags deutlich. Nur ist es keiner gegen ihre Demenz, sondern gegen Institutionen, die sie aufgrund ihrer Krankheit aus der Gesellschaft drängen möchten.

© SZ vom 08.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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