Soziales Engagement:Die Zuhörerinnen

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Vera Wetjen und Brigitte Junkert erleben ihr Engagement für andere als Bereicherung im eigenen Alltag. (Foto: Christian Endt)

Vera Wetjen und Brigitte Junkert kümmern sich als ehrenamtliche Seelsorgerinnen um alte und kranke Menschen. Sie erzählen, warum sie das tun und wie es ihnen dabei ergeht

Von Annalena Ehrlicher

Auf den ersten Blick gleichen sich Vera Wetjen und Brigitte Junkert kaum: Wo Wetjen bedächtig spricht, lacht Junkert leicht und laut; die eine trägt die dunklen Haare kurz, die andere hat lange Locken und ist einen guten Kopf kleiner als ihre Kollegin. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Frauen stellt sich ein, wenn sie über ihr Ehrenamt sprechen: Die seelsorgerische Betreuung von Patienten in der Kreisklinik beziehungsweise - in Junkerts Fall - von Bewohnern des Awo-Seniorenzentrums in Kirchseeon. Mit leuchtenden Augen berichten sie über die Menschen, die sie in den vergangenen Monaten betreut haben, über Herausforderungen und Veränderungen in ihrer eigenen Wahrnehmung.

Beide Frauen haben im Juli die sechsmonatige Ausbildung zur Seelsorgerin abgeschlossen, die von Pastoralreferent Christoph Diehl, der für die Seelsorge in der Kreisklinik Ebersberg verantwortlich ist, und der evangelischen Pfarrerin Renate Zorn-Traving initiiert und geleitet wurde. Wie die beiden zur Seelsorge gekommen sind? "Also das Seltsame ist, dass ich mir noch vor einem Jahr niemals hätte vorstellen können, so etwas zu tun", antwortet Wetjen kopfschüttelnd. Die 58-jährige Grafingerin arbeitet als IT-Fachkraft - "das absolute Gegenteil zu Seelsorge" - in der Kreisklinik, wo sie durch einen Flyer auf die Ausbildung aufmerksam wurde. "Ich habe dann spontan die Anmeldung ausgefüllt und dachte mir erst danach: Was machst du da eigentlich?". Ihre Familie habe sie darin bestärkt, sich zu bewerben. Sie selbst war am Anfang überzeugt: "Mit meinem IT-Hintergrund wollen die mich bestimmt eh nicht - aber das war überhaupt kein Problem", erzählt sie. "Und dann habe ich vom ersten Tag an einfach gespürt, dass ich genau am richtigen Platz bin."

Während sie in wöchentlichen Sitzungen von Januar bis März über verschiedene Themenkomplexe - Sterben und Tod, Nähe und Distanz, Sender und Empfänger - sowie über ihre eigene Motivation und Persönlichkeit gesprochen haben, diente der zweite Teil der Ausbildung der praktischen Orientierung. "Da haben wir dann einmal wöchentlich Menschen besucht und uns langsam herangetastet", erinnert sich Junkert. "Jetzt sind wir keine Praktikanten mehr, sondern können es", fügt sie mit glockenhellem Lachen hinzu.

Die 50-jährige Mutter einer Tochter betreut, als einzige der neuen Seelsorgerinnen, Bewohner eines Seniorenzentrums. Dass sie sich im Gegensatz zu ihren neuen Kolleginnen für die Arbeit mit älteren Menschen entschieden hat, hängt eng mit ihrer Biografie zusammen: Ihr Schwiegervater war eine Zeit lang im Awo-Seniorenzentrum Kirchseeon untergebracht. "Und bei jedem Besuch habe ich eine halbe Stunde bis zu seinem Zimmer gebraucht, weil ich von anderen Bewohnern immer wieder angesprochen wurde", fügt sie hinzu. Manche Bewohner wollten nur plaudern, andere hatten persönliche Anliegen - Junkert zuckt mit den Schultern: "Zu tun gibt es da immer genug." Ihre Motivation, die Ausbildung zur Seelsorgerin zu machen - und sich nicht im Rahmen des Besuchsdienstes zu engagieren - hängt mit einem Anspruch zusammen: "Ich wollte es richtig lernen, wirklich in die Tiefe gehen."

Ob sie die Schicksale der Menschen nicht ständig mit nach Hause nehmen? Auch hier sind die Seelsorgerinnen sich unähnlich: Während Junkert zwar manche Gespräche nachhängen, sagt sie von sich selbst, dass sie in der Lage sei, "das auf einer anderen Ebene zu betrachten" und das Erlebte von ihrem Privatleben abzutrennen. Wetjen hingegen haben die Gesichter ihrer Gesprächspartner besonders am Anfang bis in den Schlaf hinein verfolgt. Sie hat sich im Lauf der Zeit verschiedene Rituale angewöhnt: Vor und nach ihrem Seelsorgedienst sammelt sie sich beispielsweise in der Klinikkapelle. "Und ich spreche mit Herrn Diehl über das, was ich in meinen Gesprächen erlebe, um es besser zu verarbeiten", berichtet sie.

Ein Aspekt, den beide Frauen lernen mussten, war, dass Seelsorge zahlreiche Facetten hat: "Als wir im theoretischen Teil darüber gesprochen haben, was Seelsorge für uns bedeutet, waren wir uns im Grunde alle einig: Das muss tief gehend und bedeutsam sein, was man da bespricht", erinnert sich Wetjen. Doch spätestens während ihrer Praktika machten die Frauen die Erfahrung, dass häufig das Gegenteil der Fall ist. "Mir geht es bis heute so, wenn ich mit Bewohnern einfach nur normal geplaudert und interessiert nachgefragt habe, dass ich im Rauslaufen denke: War das jetzt überhaupt Seelsorge?", gibt Junkert zu. "Aber allein, dass jemand Interesse zeigt, ist eben Balsam für die Seele."

Im Krankenhaus, wo Privatsphäre eher Mangelware ist, muss Wetjen darauf achten, eine gewisse körperliche Distanz einzuhalten. Ob ein intimes Gespräch in einem Mehrbettzimmer überhaupt möglich ist? "Ach, die Zimmergenossen haben sich häufig schon alles erzählt", so Wetjen. "Über anstehende Operationen wird dann beispielsweise in einer Mischung aus Witzeln und Angst gesprochen." Während Wetjen sich jede Woche einen Nachmittag nach der Arbeit nimmt, um ihr weißes IT-Namensschild gegen das blaue Seelsorgerinnenschild auszutauschen, jongliert Junkert ihre zahlreichen Termine: "Ich schaffe es nicht jede Woche, aber ich versuche schon freitags oder am Wochenende reinzuschauen." Worin sich beide einig sind, ist der zeitliche Rahmen: Mehr als eineinhalb Stunden das erforderliche Aufmerksamkeitsniveau aufrecht zu erhalten, sei kaum möglich. "Ich habe mal eindreiviertel Stunden mit einer Patientin gesprochen, die gerade einen Trauerfall bewältigen musste", erinnert sich Wetjen. "Ah, das ist aber Wahnsinn!", platzt es aus Junkert heraus. "So lange am Stück achtsam zu sein, das ist unglaublich anstrengend."

Die Achtsamkeit, die sich die Frauen in ihrem Ehrenamt antrainiert haben, gehört zu den Aspekten, die sie auch in ihrem persönlichen Alltag besonders spüren: "Brigitte hatte das davor schon stärker, aber ich bin viel aufmerksamer als früher: Man bekommt viel mehr Zwischentöne mit und ist insgesamt empfänglicher für alles, was einen umgibt", so Wetjen. Teilweise müsse sie ihre Antennen bewusst wieder dämpfen - man wolle ja auch nicht ständig mit überscharfen Sinnen unterwegs sein.

© SZ vom 02.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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